Lesetipp der Woche: Elke Heidenreich empfiehlt diese 104 Bücher (2023)

Köln- Vieles ist in dieser Zeit anders als normal, aber was man auch während der Corona-Pandemie ohne Einschränkungen tun kann, ist Lektüre. Und das ist ein großer Trost. Regelmäßig stellen wir Neuerscheinungen im Kulturteil und in unserem monatlichen Buchmagazin vor. Aber Lesetipps werden nie müde und deshalb freuen wir uns sehr, dass wir eine Top-Leserin gewinnen konnten, die euch jeden Samstag Buchtipps gibt: Elke Heidenreich.

Die 79-Jährige hat in ihrer Arbeit für Radio und Fernsehen stets versucht, den Menschen die Freude am Lesen zu vermitteln, insbesondere in ihrer Buchsendung „Lesen!“. von 2003 bis 2008 beim ZDF. Er ist Teil des Kritikerteams des Schweizer Literaturclubs, Sendungen, die auf 3 Sat wiederholt werden. Und jetzt liest sie auch für den „Kölner Stadt-Anzeiger“.

„Es sind Buchtipps für neue, vielleicht auch ältere Bücher, die uns in diesen seltsamen Zeiten helfen, den Hausarrest zu überstehen! Und vielleicht entdecken einige von ihnen das Lesen wieder für sich“, sagt sie. Ein Buch soll alles um sich herum vergessen machen, auch Corona. „Es muss zwei Kriterien erfüllen: Die Geschichte muss gut sein und es muss fesselnd und sprachlich interessant sein. Wenn jemand nichts zu sagen hat, nützt die schönste Sprache nichts.“ . Wenn jemand eine tolle Geschichte hat und sie nicht erzählen kann – auch nutzlos. Wenn beides stimmt, macht das Lesen Freude!“

Hier ist die 104Exklusive Buchtipps von Elke Heidenreich:

Steinunn Sigurdardóttir: „Nachtdämmern“

„Nightfall“ heißt dieses wunderschöne und poetische Buch des isländischen Autors Steinunn Sigurdardóttir. Es gibt mehrere Gedichte, Gedankenfragmente, kleine Verse, die, nacheinander gelesen, zu einer Autobiographie und einer großen Klage werden. Und wenn wir sehen, wie in diesem Sommer in ganz Südeuropa die Wälder brennen und Rauch den Tag verdunkelt, wird selbst der jüngste Leugner verstehen, dass wir vor einer Klimakatastrophe stehen.

In Island bedeutet es: Die Gletscher verschwinden, die Symbole dieses Landes: Island. Das Buch in Gedichtform liest sich wie ein melancholischer Abgesang, eine Klage, eine Klage – „Wenn DER GROSSE abreist / Dann geht nicht nur er / sondern auch die Vision der Welt verloren“, heißt es, und: „Alles.“ wird zur Schicksalserde / das innere Feuer lodert auf / die Erde, selbst unter dem Gletscher, erhitzt sich / hält es nicht mehr aus.

Wehmütig entwirft der Autor Bilder vom „kalten und schönen Meer“, der „Eigenart namens Liebe“ und den „verkohlten Hügeln der Enttäuschung“ – es ist ein ganz magisches Gedankenspiel mit Verlust und Sehnsucht angesichts einer Natur, einer Welt, die … es endet. „Wo soll sich denn die Menschheit retten? / Zu den Sternen? Welche Sterne?“

In „Night Dawns“ kommt die Sehnsucht nach allem, was wir bald verlieren und zerstören werden, auf zutiefst bewegende Weise wieder zum Vorschein. Der größte Gletscher geht zugrunde – „So stirbt auch der weißeste Körper der Welt, / dann übernehmen die Trümmer die Oberhand.“

Steinunn Sigurdardóttir: „Nachtdämmerungen“, Duits por Kristof Magnusson „Nachtdämmerungen“ (Dörlemann) 118 Seiten, 22 Euro.

Eric Pfeil: „Azzurro: mit 100 Liedern für Italien“

Wenn wir nach Italien reisen, singen wir italienische Schlager, Canzoni, Donner und natürlich „Volare“, „O sole mio“, „Azzurro“ ... Und Azzurro ist der Name eines wunderschönen Taschenbuchs mit einem Hundert Geschichten zu hundert italienischen Liedern. Der Autor ist Eric Pfeil, er schreibt für den Rolling Stone, er hat eine Band namens The Reality und spielt hier die berühmtesten italienischen Hits.

Die Liedtexte sind leider nicht abgedruckt, was wahrscheinlich den Rahmen gesprengt hätte – aber er weiß zu jedem dieser Lieder interessante Geschichten zu erzählen – zum Beispiel, dass Adriano Celentano dieses „Azzurro“ wollte, das der Mailänder Anwalt Paolo Conte geschrieben hat – und so war es sein größter Erfolg.

Später wurde Conte auch Sänger und sang seine eigene Musik auf ganz andere Art und Weise. Oder Patty Pravo, die 1968 mit „La Bambola“ zum Superstar wurde – Schock für Italien: schroffe Stimme, Hosen statt Röcke, kurze Haare statt Mähne, diese Frauen gab es in der italienischen Musikwelt sowieso nicht, und dann die Nächster Schocker: Gianna Nannini mit „Bello e impossibile“, schön und unmöglich, eine weitere schnelle und selbstbewusste Frau im Gegensatz zum Mainstream-Pop.

Natürlich gehört auch „O sole mio“ dazu, gesungen 1916 von Caruso, dessen Frau gerade mit dem Fahrer durchgebrannt war und der daraufhin ein wildes und wütendes Liebesleben begann. Er hat es vermasselt und als er gefragt wurde, sagte er nur: „Caruso tut es zu leid!“ Wunderbares Buch über Musik, die wir alle kennen und lieben. Also lasst uns mit diesem Soundtrack im Kopf nach Rimini fahren!

Eric Pfeil: „Azzurro: mit 100 Liedern für Italien“, Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 14 Euro

Dagmar Leupold: „Elefanten hingegen!“

Herr. Harald ist der Garderobenmann, der unsere Mäntel ins Theater bringt. Sie riechen nach Kochfett oder Parfüm, manchmal fehlt ein Knopf, manchmal fällt ein Saum ab, und er macht sich Sorgen um die Menschen und die Mäntel, gibt nach der Show alles sorgfältig zurück und fährt dann in seine ruhige Wohnung.

Herr. Harald lebt alleine und hat feste Rituale, wie er isst, wann er einkaufen geht, wann er seine Hemden in die Wäscherei bringt, immer in derselben Maschine, wenn sie nicht frei ist, fängt sie an zu rutschen.

Wir haben es mit einem sehr einsamen, sehr verletzlichen Menschen zu tun, der die Rituale wie ein Gitter zusammenhält. Herr. Harald schaut sich einen Film über das tolle Sozialleben der Elefanten an. Du hast ein soziales Leben. Nicht Mr. Harold. „Für die Elefanten!“

Von Zeit zu Zeit tauchen Erinnerungen an das „Haraldkind“ auf und wir vermuten, dass ein Kind schon in jungen Jahren verletzt, verletzt und angesteckt worden sein muss. Er schließt wie ein Erwachsener und ist einfach am sichersten.

Doch in diesem ruhigen, bewegenden Buch passieren zwei Dinge: Mr. Harald verliebt sich ein wenig in den Pageturner bei Klavierkonzerten, sie sitzt ganz aufmerksam neben dem Pianisten und hat diesen wunderbaren Moment, die Seite richtig umzublättern, und sie ist ein ebenso wenig beachteter Mensch wie er.

Und wenn eine Jacke nach der Show nicht abgeholt wird und er sie vom Haken nimmt, ist sie überraschend schwer. Herr Harald greift in seine Tasche und da ist eine Waffe. Und nun? Dagmar Leupold hat ein wunderschönes Buch voller Melancholie, Schmerz und Liebe geschrieben.

Dagmar Leupold: „Auf der anderen Seite die Elefanten!“, 272 Seiten, Jung und Alt, 23 Euro, E-Book: 18 Euro.

Susanne Falk: „Fast eine Idylle. Halbwahre Geschichten“

Wer keine langen Romane lesen möchte, sondern im Urlaub einfach ab und zu eine kleine Geschichte braucht, ist mit diesem Buch genau richtig – zumal es auf geheimnisvolle Weise damit wirbt, dass die Geschichten „halb wahr“ seien.

Ein guter Trick: Weil alle Charaktere und Umstände stimmen, zum Beispiel bei Coco Chanel oder Johann Sebastian Bach, bei Thomas Mann, Beethoven, Kleopatra oder Shakespeare, bei Marlene Dietrich oder Marilyn Monroe. Genau das, was hier auf ein paar Seiten passiert – das stimmt nicht, das hat sich Susanne Falk ausgedacht und sie ist auf jeden Fall sehr nah am Möglichen.

Wir alle wissen, dass Marilyn Monroe und John F. Kennedy eine Affäre hatten ... Warum also nicht ein Cottage auf Martha's Vineyard für ein romantisches Wochenende mieten? Sie trägt neue schwarze Seidenkleidung, trinkt starken Rotwein und sieht, wie der Schiffsführer an Land kommt, ohne Sicherheitskräfte – zwei Tage und eine Nacht!

Doch schon an der Tür greifen beide aufeinander an, sodass in drei Minuten ihr Traum in Erfüllung geht. Und dann? Was machst du? Worüber redest du? Er geht, sie weint und betrinkt sich.

Halb wahr und sehr vorstellbar, nicht wahr? Und dass Kleopatra etwas mit ihrem Gärtner zu tun hat, der danach offensichtlich sterben muss, können wir vermuten. Und wenn der Bauer nicht weiter weiß, zieht Marlene Dietrich einfach das Kalb von der Seite der Kuh – diese Frau kümmert sich um alles! Diese 24 Geschichten und ein fiktiver Brief sind lustig, möglich und wunderschön erfunden.

Susanne Falk: „Fast eine Idylle. Mitten in wahren Geschichten“, Picus Verlag, 265 Seiten, 22 Euro

Claire Thomas: „Die Feuer“

Wir sind in Melbourne, in einem Theater. Draußen ist es heiß, und nicht nur das: Im Wald nahe der Stadt wüten riesige Brände. Doch hier steht fest, dass das Stück „Happy Days“ von Samuel Beckett aufgeführt wird, ein Stück über die Absurdität des Lebens.

Ein altes Ehepaar, Winnie und Willie, ist in Erdhaufen gefangen und ihr Leben wird zusammengefasst. Es weckt beim Betrachter auch Gedankenketten über das eigene Leben, darüber, was schief gelaufen ist, was nutzlos ist, was noch zu retten ist.

Die australische Autorin Claire Thomas wählt drei Hauptfiguren aus, deren Gedanken sie vorlesen lässt. Es bestehen Assoziationen zum Bühnengeschehen. Da ist Margot, eine 70-jährige Literaturlehrerin, die darunter leidet, dass ihr Mann John an Demenz leidet; Ivy, eine 40-jährige Kunstmäzenin und ehemalige Schülerin von Margot, denkt an das Kind, das sie verloren hat, und Summer, eine junge Schauspielerin, die hier als Kurierin arbeitet, macht sich Sorgen über den Besuch ihres Geliebten bei ihren Eltern, die in der Nähe wohnen. Wald, genau dort, wo das Feuer brennt.

Auf der Bühne wird das Leben bedeutungslos, draußen spielt die Natur verrückt und diese drei Frauen sitzen im Dunkeln und ihnen passiert alles, woran sie sich lieber nicht erinnern, woran sie lieber nicht denken möchten.

Der intime, dunkle Raum des Theaters, die Assoziationsketten in den Köpfen der Menschen, Beckett, der das alles schon wusste, Menschen mit ihren Sorgen im Kleinen, und im Großen geht die Welt kaputt. Brennen. Das Buch „Die Feuer“ ist eindrucksvoll erzählt – damals ein gutes Buch.

Claire Thomas: „Die Feuer“, Duits von Eva Bonné, Hanser, 256 Seiten, 23 Euro.

Lucy Fricke: „Die Diplomatin“

Ich wollte genau wissen, was das Wort „Schmöker“ bedeutet, das ich von Zeit zu Zeit für besondere Empfehlungen verwende – und in meinem Brüder-Grimm-Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert steht: Es bedeutet ein altes nutzloses Buch mit Verachtung.

Aber ich denke ganz anders: Ich glaube, man liegt im Garten, auf der Veranda, im Urlaub am Meer, und man braucht keine Klassiker, nein, wer kennt schon schwierige Bücher, man braucht einen Wälzer der Wahrheit, etwas zum Mitnehmen Mit Ihnen Emotion und Spaß, dass Sie die Lektüre zu Ende lesen können, etwas, auf das Sie sich freuen.

Also bitte: Lucy Frickle hat mit „The Diplomat“ ein solches Buch geschrieben. Erzählt wird die Geschichte von Friederike Andermann, Fred, der zunächst in den diplomatischen Dienst nach Uruguay wechselt, wo er an einer außer Kontrolle geratenen Entführungsgeschichte scheitert, nun nach Istanbul kommt und dort frustriert an den Grenzen des Rechtsstaates stößt, Europäisches Vertrauen und Ideen.

Fred schwankt zwischen Moral und Diplomatie, sie versucht, die Grenzen diplomatischer Verantwortung für Meinungsfreiheit und Menschenrechte zu überschreiten und zweifelt zunehmend an ihrem Beruf, traut niemandem mehr, ist einsam, wird unsicher, aber dennoch standhaft.

Das alles ist nicht nur spannend und teilweise sehr humorvoll geschrieben mit wunderschönen Dialogen, gerade wenn es um eine undisziplinierte Bürokratie geht, die nie funktioniert, sondern die Geschichte ist auch sehr aktuell in Zeiten, in denen wir überall die Ohnmacht der Diplomatie sehen. Ein rundum gelungener, unterhaltsamer und sogar brisanter Roman. Ein Buch! Im besten Sinne.

Lucy Fricke: „Die Diplomatin“, Claassen, 256 Seiten, 22 Euro.

Bonnie Garmus: „Eine Frage der Chemie

Ich habe schon lange keinen so lustigen und zugleich brillanten Roman mehr gelesen! Die Chemikerin Elizabeth Zott, deren Leben hier traurig geschildert wird, ist so anschaulich, dass ich ungläubig mehrmals danach gegoogelt habe: Sie existiert nicht, sie ist tatsächlich erfunden!

Wir schreiben das Jahr 1961, eine Frau hat es schwer, umgeben von Wissenschaftlern, sie nehmen sie nicht ernst, und als sie erkennen, was Elizabeth Zott kann und weiß, machen sie sie als Konkurrentin so rücksichtslos platt, dass sie fast das Handtuch wirft. Fast, denn eine der Lehrerinnen erkennt sofort ihr Potenzial, ein Nerd, klug, einsam und exzentrisch – und die beiden verlieben sich.

Zusammen sind sie sogar unschlagbar... aber ich möchte nicht zu viel verraten. Nur das: dass Elizabeth vom College geworfen wird und in der Fernsehkochsendung „Meal at Six“ Geld verdienen muss. Als Wissenschaftlerin sagt sie nicht, dass man die Kartoffeln mit Wasser und Salz auf den Herd stellen soll, sondern dass man der Knolle Natriumchlorid hinzufügen und sie mit H2O auf den Herd stellen soll. Und am Ende jeder Show sagt sie: „Kinder, eure Mutter braucht jetzt einen Moment für sich. Lasst sie in Ruhe und deckt den Tisch.“

Und sie hat großen Erfolg, Hausfrauen lieben sie, wagen es, alte Berufsträume wieder wahr werden zu lassen, und ja: Am Ende geht alles (ein bisschen zu) gut, aber was für eine lustige Lektüre! Ich beneide Sie, dass Sie dieses Buch noch vor sich haben. Wie ich werden Sie sich Hals über Kopf in Elizabeth Zott verlieben.

Bonnie Garmus: „A Matter of Chemistry“, Piper, 462 Seiten, 22 Euro

Karl Valentin: „Mein Comic-Wörterbuch. Sprichwörter für alle Lebenslagen“

Heute habe ich keine direkte Buchempfehlung, heute möchte ich jemanden daran erinnern: Der große Komiker und Exzentriker Karl Valentin wurde vor 140 Jahren in München geboren, und er war nicht nur ein Komiker, dieser große, schlaksige, unglückliche Mann: er beeinflusste Brecht, Samuel Beckett sowie Loriot und Gerhard Polt und ernannte ihn zu seinen Nachfolgern.

Er war der Erste, der die alltäglichen Katastrophen und Absurditäten dieser Welt auf den Punkt brachte, nachzulesen in Pipers Broschüre „Falsch Entbunden – Katakatan des Arbeitslebens“, das Pech der Radfahrer, die Suche mit Brille, oh, und die berühmte Konfirmation mit seinem Vater an der Bar, wo alles schief geht.

Mir gefallen Valentins Einzeiler am besten – wie er in der Zeit des Nationalsozialismus auf der Bühne sagte: „Heil...heil...ja, wie heißt er denn?“ Ich erinnere mich nicht an den Namen.“ Und als ihm der Name einfiel: „Gott sei Dank heißt der Führer nicht Kräuter, sonst müsste man ihn mit ‚Rettet Kräuter!‘ begrüßen.

So lustig Karl Valentin auf der Bühne auch war, so unglücklich und krank war er vor allem: unglückliche Fälle, Asthma, sicherlich auch Magersucht, dieser Magere ließ das Theater einfrieren und geriet in Vergessenheit.

Er wurde am Aschermittwoch beigesetzt, längst vergessen von der Stadt München. Erst viele Jahre später wurde er als einer unserer größten Komiker wiederentdeckt – eine Art trauriger Clown, aber: ein Verbalakrobat ohne rote Nase.

Karl Valentin: „Mein Comic-Wörterbuch. Sprüche für alle Situationen“, Piper, 320 Seiten, 12 Euro.

Adeline Dieudonné: „23,12 Menschen in einer Nacht“

„Real Life“ hieß ein eindringlich intensiver Roman der Autorin, und sie kennt sich aus: Denn auch hier beschreibt sie das wirkliche Leben, nämlich das Leben um 23.12 Uhr an einer Autobahntankstelle.

Es treffen Menschen ein, die nichts miteinander zu tun haben und deren Leben sich in diesen Minuten kreuzen – dreizehn Menschen, eine Leiche und ein Pferd. Dreizehn Schicksale in einer heißen Sommernacht – Enttäuschung, Liebe, Wut, Verzweiflung. Chelly kann ihren Mann Nicolas nicht mehr ausstehen, sie ersticht ihn.

Juliette ist an der Tankstellenkassiererin, ihr Mann arbeitet im Schlachthof und dieser Job macht ihn verrückt. Alika ist ein Dienstmädchen aus den Philippinen, das wie ein Möbelstück behandelt wird. Sie kümmert sich um die Kinder anderer Menschen, während ihre eigenen Kinder ohne sie aufwachsen. Julianne hat einen Angriff überlebt und kann mit den Erinnerungen nicht umgehen. Loic leistet nachts Pannenhilfe und ist mit den koketten Piraten im Netz nicht nur da.

Olivier bringt seine Großmutter in ein Pflegeheim, die Familie will sie loswerden. Julie will endlich echten Sex und als Monica vor das Auto rennt, ahnt sie nicht, dass sich im Kofferraum eine Leiche befindet. Und das Pferd? Ach, das Pferd. Auch das hat seine Geschichte. Es ist 23:12 Uhr, als sich alle versammeln. Und es ist 23:14, wenn nichts mehr wie zuvor ist.

Zwölf einzelne Kurzgeschichten wachsen in dem zusammen, was wir – als dieser großartige Autor – „wirkliches Leben“ nennen. Es ist kein leichter Stoff, aber was ist Licht?

Adeline Dieudonné: „23,12 Menschen in einer Nacht“, deutsch von Sina de Malafosse, dtv, 176 Seiten, 18 Euro.

Tove Ditlevsen: „Rostos“

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich Ihnen die Self-Fiction-Trilogie der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen vorgestellt: „Jugend“ – „Jugend“ – „Abhängigkeit“. Ditlevsen, die in den 1920er Jahren in einem Schreibtisch in Kopenhagen aufwuchs und 1976 starb, wurde hier nicht nur wiederentdeckt, sie ist fast weltberühmt geworden und wurde in über 30 Sprachen übersetzt.

Selbstfiktion bedeutet: Sie erzählt ihr Leben, aber in Romanform und anhand einer anderen Person, nicht 1:1. Und nun ist sein wohl wichtigstes Buch erschienen: „Faces“, die Geschichte einer Frau namens Lise Mundus – in der wir Ditlevsen wiedererkennen –, die an einer Psychose leidet.

Unfähig, mit Ehe, Kindern und Alltag klarzukommen, nimmt sie eine Überdosis Pillen, vielleicht nicht um zu sterben, sondern um geschützt vor der Realität der Psychiatrie aufzuwachen.

Das kleine Buch beschreibt diese Wochen in der Klinik, schmucklos, verstörend, bewegend. Lise fantasiert über die Realität, hört Stimmen, sieht Gesichter, schwankt zwischen Wahnvorstellungen und großer Klarheit und weiß vor allem: Sie muss und will schreiben. Und als sie nach langer Behandlung entlassen wird, sagt sie: „Morgen werde ich wieder schreiben.“ Das heißt, womit Tove Ditlevsen immer gespart hat.

Rilke sagte: „Es gibt viele Menschen, aber viel mehr Gesichter, weil jeder mehrere hat.“ Tove Ditlevsen zeigt in diesem Roman ihr Gesicht völlig entblößt, voller Schmerz und doch: was für eine Zärtlichkeit!

Tove Ditlevsen: „Faces“, Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro; Elektronisches Buch 14,99 Euro.

Gerhard Polt: "Dr. Arnulf Schmitz-Zceisczyk"

Heute wird er 80 Jahre alt, der Komiker, Autor, Schauspieler, Regisseur, Philosoph, Bayern-Urgestein: Gerhard Polt. Wir verdanken ihm die Klassiker: von Mai Ling, dem guten Asiaten im Katalog, bis zum rebellischen Kind, das überhaupt nichts mit einem Osterhasen zu tun hat! will sehen, aber stur mit Nikolausi! Überreste.

Sturheit, Bigotterie, Kleinlichkeit – das sind die großen Themen des großen Gerhard Polt und des Kein&Aber-Verlags, der ihn hervorragend behandelt, und seines mittlerweile umfangreichen literarischen Oeuvres, einem Polt-Roman über einen besonders unangenehmen Zeitgenossen, den Mann, den ich lieber hätte nicht bekannt: Dr. . Arnulf Schmitz-Zceisczyk, beruflich im Finanzbereich tätig, Besitzer eines Zweitwohnsitzes, natürlich am Tegernsee, wo es schön wäre, wenn diese furchtbar einfachen Bauern mit ihren gackernden Hühnern nicht wären: „Bauernhof hier und da, aber heute.“ Das Huhn gibt es auch bei Edeka zu kaufen! Eier gibt es auch überall, ich muss sie also nicht ausbrüten, oder?

Wir haben gelernt, ihn zu hassen, diesen Dr. Der düstere Arnulf sowie seine alberne Frau Annerose, die gelegentlich abfällige Bemerkungen macht. („Nun, Mrs. Orlow, sie ging zur Maskenbildnerin, weil sie einen Truthahnhals hatte. Aber es tut mir leid, sagen zu müssen, der Hals sah nicht wie der von Nofretete aus!“)

Und als wir es lasen, lachten wir die ganze Zeit und wurden nervös. Da sind sie, diese Arnulfs und Anneroses. Doch gegen Polt haben sie keine Chance, er seziert sie. Gerhard, mein Freund: Herzlichen Glückwunsch und: RESPEKT!

Gerhard Polt: "Dr. Arnulf Schmitz-Zceisczyk", No&But, 144 páginas, 22 euros.

Christiane Bauermeister: „Der gute russische Tisch“

Erinnern Sie sich an Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“? Hans Castorp ist im Sanatorium für Lungenkrankheiten in den Schweizer Bergen, und Thomas Mann beschreibt den Speisesaal: „... es gibt einen guten russischen Tisch, an dem nur die besten Russen sitzen.“

Im Moment sehen wir nirgendwo einen „guten russischen Tisch“, aber Christiane Bauermeister erzählt von Erinnerungen an ihre Reisen nach Russland in den 1970er Jahren. Sie schildert ihre Besuche bei Künstlern und Schriftstellern, spricht über Lilya Brik, die große Liebe des Dichters Wladimir Mayakovsky erzählt von beengten Gemeinschaftswohnungen und großer Gastfreundschaft, und einmal während eines Besuchs in (damals) Leningrad traf sie sie beim Bürgermeister im Wohnzimmer, einem Herrn im grauen Anzug und blauen Augen, „der so etwas wie ein Wiesel an sich hatte“. " und er gibt ihr seine Visitenkarte.

Nun fiel ihm die Karte in die Hände: „Wladimir Putin“ stand darauf. Aus dem Wohnzimmer wissen wir, wohin dieser Mann gegangen ist. Nein, er sitzt sicher nicht „am guten russischen Tisch“, zum Beispiel mit Wladimir Sorokin, dessen Bücher einst in Russland verbrannt wurden, oder mit Helena Semjonowa, die am 6. mit 85 Jahren in Armut auf einem kleinen Dachboden lebte Als junge Frau studierte Alexander Rodtschenko Kunst. Es gibt ihn noch, den guten russischen Tisch. Russische Metzger aus der Ukraine sind nicht da.

Dies ist meine 100. Kolumne, 100 Mal habe ich Ihnen hier neue Bücher vorgestellt, und heute möchte ich Sie daran erinnern, dass dies Putins Krieg ist, nicht Tschechow, Turgenjew oder Lilja Brik.

Christiane Bauermeister: „Der gute russische Tisch“, Transit, 173 Seiten, 20 Euro

Anne Tyler: „Eine gemeinsame Sache“

Anne Tyler macht sich ständig über mich lustig. Jedes Mal, wenn ich denke, aber das ist harmlos, passiert nichts, warum erzählt sie das jetzt so ausführlich? Warum sollte es mich interessieren, dass Mercy jeden Tag etwas in ihr Studio mitbringt, Schuhe, eine Jacke, einen Wasserkocher? Sie malt einfach dort. Am Abend ist sie wieder bei ihrem Mann Robin.

Bis es mir klar wird: Mercy zieht um. Nach 50 Jahren Ehe verlässt sie ihren Mann auf eine Art und Weise, dass er es erst merkt, wenn sie endgültig von ihr gegangen ist. Und wir merken es auch nicht. Anne Tyler hat ein fast teuflisches Gespür für sehr feine Risse, die zunächst sichtbar sind, kaum bemerkt werden und schließlich ganze Familiengebäude zum Einsturz bringen.

„A Common Purpose“ heißt sein neuer Roman, erschienen in der wunderbaren Tyler-Reihe von Kein&Aber. Wir leben bei der Familie Garrett, die gute Alice, wollte Lily, und David stellt sich lange nach dem Tod seines Vaters immer wieder den Moment vor, als er fast im See ertrunken wäre und der Nachbar ihn gerettet hätte, während sein Vater nur zusah und sich nicht bewegte.

Diese Wunde heilt nie und ist der Wendepunkt, der Davids gesamtes Leben veränderte. Im Nachhinein weiß man alles über Familien, wenn man Tyler liest, aber wenn man es liest, denkt man: Wie wir, Abneigung gegen Schwestern, zuverlässige Mütter, emotionslose Väter, alles normal, und am Ende haben wir Familienalben voller Fotos, denen es aber an Zusammenhalt mangelt. Keine „gemeinsame Sache“.

Das kann nur Anne Tyler sagen. Beste Unterhaltung mit langsam wachsender Gänsehaut.

Anne Tyler: „One Thing in Common“, Duits von Michaela Grabinger, No & But, 352 Seiten, 26 Euro, E-Book: 21 Euro.

Axel Hacke: „Ein Zuhause für viele Sommer“

Axel Hacke gelingt das mit Leichtigkeit: Erzählen mit leichter Hand, immer ein bisschen witzig, immer ein bisschen melancholisch, und wenn er über seine Reisen in seine italienische Heimat auf der Insel Elba schreibt, sind wir mittendrin und riechen das Luft, Oliven, Zitronen, böse Worte, weil der Fiat 500 nicht mehr fährt, obwohl der Mechaniker Ennio damit ein Vermögen verdient, treffe die Nachbarn, das sind seit dreißig Jahren die gleichen mit den gleichen Erklärungen und Ausreden, ja, er wird morgen kommen, Lorenzo der Zimmermann ... er kommt nie. Er muss in der Sonne sitzen und Wein trinken. Und „Serafino geht mit verlorenen Haaren spazieren“. Dieses Haus, sagt Hacke, sei kein Ferienhaus.

Wenn man nach einer langen Reise endlich ankommt, es irgendwo geregnet hat oder etwas anderes kaputt ist, muss man das Zimmer lüften, die Betten machen, den Staub abschütteln, warum sollte man das tun, wenn man um die ganze Welt reisen kann? Weil es ein Zuhause geworden ist, weil man es liebt, auch wenn die Ziegen den Zaun zertrampelt und den kahlen Garten gefressen haben. Wenn mit viel Arbeit endlich alles in Ordnung ist, geht man wieder raus, der Urlaub ist vorbei. Und das nächste Mal ist es das Gleiche von Anfang an – es heißt „Ein Zuhause für viele Sommer“.

Aber niemand kann dies herzlicher und eindringlicher sagen als Hacke. Während wir lesen, sind wir im Urlaub in den Tiefen Italiens, verstrickt in ein Netz aus Geschichten, Gerüchten und Zugehörigkeiten und sitzen einfach da „und lassen das Leben beißen“. .

Axel Hacke: „Ein Haus für viele Sommer“, Kunstmann, 285 Seiten, 24 Euro.

Frauke Tuttlies: "De gegooide appel"

Wir erinnern uns: Eva gab Adam den verbotenen Apfel und landete im Paradies. Frauke Tuttlies Roman heißt „Der geworfene Apfel“ und man hat das Gefühl, dass dieser Apfel wieder in den Himmel kommt.

Die Erzählerin, eine Schülerin, blickt in Omas Apfelgarten und sieht, wie Opa unter den Apfelbäumen Tante Maria küsst. Die Großmutter ist zwar verstorben, aber es geht ihr nicht gut, oder?

Denn der Großvater ist der strenge Patriarch einer kultivierten und äußerst frommen Familie, in der für Liebe und solchen Schnickschnack wenig Platz ist. Der Großvater bemerkt, dass die Enkelin ihn und Tante Maria gefangen hat, wirft ihr einen Apfel zu und schreit: „Das ist unser Geheimnis!“

Dieses Geheimnis will das Mädchen nicht mit ihrem Großvater haben. Er hatte ihnen all diese Gefühle, Romane, Gedichte und Politik beigebracht, dass alles Leben außerhalb der strengen Regeln Gottes verboten sei, dass alles außer dem Glauben Schmutz und Sünde sei und gesühnt werden müsse, und jetzt das?

Die junge Frau ist schockiert, und doch weckt dieser wahrgenommene Kuss insgeheim ihre eigenen Träume und Wünsche, sie wagt das Bedürfnis nach etwas mehr Liebe und Romantik in ihrem streng protestantischen Zuhause und siehe da: Es ist möglich, und Gott tut es nicht. Bestrafe sofort jeden Gedanken daran. Und auch nicht bei jedem Kuss.

Es ist ein verliebtes kleines Buch über Begierde und Poesie, in dem noch ein zweiter Apfel hineingeworfen wird: „Ein dankbarer Tag am Grab meines Großvaters“. Er und Tante Maria sind übrigens verheiratet.

Frauke Tuttlies: "The Thrown Apple", Transit, 124 páginas, 16 euros

Hans Christian Andersen: „Die schönsten Märchen“

Der Kinderbuchtag wird seit 1967 weltweit am 2. April gefeiert – zu Ehren des großen Geschichtenerzählers Hans Christian Andersen, der am 2. April 1805 in Dänemark geboren wurde.

Ein Grund für mich, heute in meiner kleinen Kolumne an diesen Mann zu erinnern, dem wir wunderschöne Märchen wie „Die Schneekönigin“, „Der Zinnsoldat“, „Das hässliche Entlein“ oder „Des Kaisers neue Kleider“ zu verdanken haben. .

Er hat 168 Märchen geschrieben, mein Lieblingsmärchen ist das von der Nachtigall, die nachts am Fenster den sterbenden Kaiser von China wieder gesund singt – zu Musik, sogar Nachtigallenmusik – das kann man ganz einfach!

Andersens Leben begann nicht glücklich, sein Vater, ein armer Schuhmacher, starb, als er gerade elf Jahre alt war, und sein Sohn arbeitete in der Fabrik, um seine alkoholkranke Mutter zu unterstützen. Doch schon früh fand er Förderer, die sein Talent erkannten, sodass er zur Schule gehen, sogar studieren und mit dem Schreiben beginnen konnte.

Er schreibt mit einer herzzerreißenden Schönheit und Wahrheit, aber er muss ein sehr seltsamer Mann gewesen sein, unbeholfen, launisch, zurückgezogen, misstrauisch, und als er einmal viel Zeit mit Charles Dickens in London verbrachte, war er genau wie er und seine Frau .Tochter mit all ihren Eigenheiten, die sich gut verstanden hat. Sie war nervös, als sie nach seiner Abreise einen Zettel an den Spiegel des Gästezimmers klebten: „Andersen hat fünf Wochen lang in diesem Zimmer geschlafen – für die Familie kam es sich wie Jahre an.“

Ja, es könnte sein: Große Genies sind nicht automatisch gesellige Menschen. Aber Andersens Prinzessin auf der Erbse hatte auch ihre Macken – und genau deshalb lieben wir sie!

Hans Christian Andersen: „Die schönsten Märchen. Illustriert mit Aquarellen von Edmund Dulac“, wgb-Ausgabe, 176 Seiten, 40 Euro

Juliane Marie Schreiber: „Ich möchte lieber nicht“

Das ist ein Buch nach meinem Herzen! Schnell, brutal, wütend! Es ist ein Buch gegen den Glückswahn – warum müssen wir alle ständig positiv denken oder Misserfolge gar als Chance begreifen? Für Christian Lindner sind Probleme eher „heikle Chancen“. Entschuldigung, was? Warum muss ich mich ständig optimieren, warum lügen sie, dass wir alles schaffen könnten, wenn wir wollten?

Es macht sich eine Angst vor dem Glück breit, die zu Unglück führt, denn auf dieser Welt bekommt man nicht alles, was man will. Darüber hinaus wurde die Welt nicht durch die Glücklichen verbessert, sondern durch die Suchenden, die Unzufriedenen.

Das Unglück bewegt uns, nicht das angenehme Glück, wie bereits Karl Marx wusste. Mein Duschgel soll nicht nur gut riechen, nein, es soll mich glücklich machen und der süße Traumtee soll mich auch im Schlaf begeistern.

Die Politikwissenschaftlerin Juliane Marie Schreiber hat ein brillant rabiates Buch über diese ganze Illusion geschrieben, uns Produkte überhaupt als Glücksbringer zu verkaufen. Allerdings ist es irgendwann untergegangen, als wir irgendwann die Möglichkeit haben, dem ganzen „Du musst positiv sein“-Zwang einfach zu sagen: „Ich möchte lieber nicht.“

Ich möchte mich nicht darüber freuen, dass die Kanäle in Venedig ohne Touristen wegen Corona wieder sauber sind, ich möchte berücksichtigen, dass Hunderttausende gestorben sind. Ich möchte im Hier und Jetzt bleiben und nicht in der glücklichen Lüge albern sein.

Juliane Marie Schreiber: „Ich möchte lieber nicht“, Piper, 205 Seiten, 16 Euro

Julia Schoch: "O Incidente"

Der Vorfall ist folgender: Der Ich-Erzähler, den wir mit dem Autor gleichsetzen können, zeichnet nach einem Vortrag, während er noch am Büchertisch sitzt, als eine junge Frau zu ihm sagt: „Wir haben übrigens den gleichen Vater.“ ." Der Autor steht spontan auf und umarmt diese fremde Frau. Und weint. Und nichts anderes passiert, das war das Ereignis, das war alles, aber es verändert auch alles.

Denn erst im Nachhinein denkt der Erzähler: Kann das wahr sein? Gab es Geheimnisse in Ihrer Familie? Sie erinnert sich an Brüche, Unerklärliches aus der Vergangenheit, wird von einer Unsicherheit erfasst, die ihr ganzes Leben lang erfasst: Was gilt noch, was nicht, sollte sie ihre Vorstellungen von Familie ändern? Wer gehört dazu und wer nicht? Will sie sich wirklich an alles erinnern, an ihre Eltern, an ihren Vater, an ihre Kindheit in der DDR oder machen solche Erinnerungen sie am Ende einsam und unglücklich, lässt sich das nicht leichter vergessen und verdrängen?

Das ist das Schöne an diesem intensiven Roman: Es geht nicht um das Ereignis, sondern darum, was es mit dem Erzähler macht und wie es all seine Gefühle und Gewissheiten erschüttert.

Dieses Buch ist wirklich, und das sage ich selten, ein literarisches Werk, ein tugendhaftes Meisterwerk über Erinnerung und Verdrängung und über das, was wir wirklich sind: hilflose, verwurzelte, leicht erschütterte und reizbare Menschen. Wir alle. Der Roman gilt als Auftakt zur Trilogie „Biographie einer Frau“. Wir können voller Vorfreude sein.

Julia Schoch „The Incident“, dtv, 191 Seiten, 20 Euro

Jack Kerouac: „Unterwegs“

„Ich war so müde wie seit Jahren nicht mehr. Ich musste noch 360 Meilen per Anhalter nach New York fahren und hatte einen Cent in der Tasche. Das war der lässige Klang von „Unterwegs“ von A Jack Kerouac-Roman, veröffentlicht in den USA Mitte der 1950er Jahre.

Ein Mann reist mit seinem Freund durch Amerika, viele Mädchenwechsel, Affären, Drogen, alte Autos, Aufzüge, Güterzüge, und er schreibt atemlos darüber und er liebt Musik, es scheint, dass der neue Jazz kommt, und wir alle wollten ihn direkt rein und raus gehen und auch unterwegs.

Das Buch wurde zum Kultroman einer Generation, meine abgenutzte Ausgabe ist von 1963. Heute weiß ich: Vieles wurde gekürzt und aufgeräumt, aber die ungekürzte Fassung ist jetzt auch hier – sie ist ziemlich lang, heute ist klar, dass sie es ist nicht so explosiv wie damals.

Das Buch diente auch als Vorlage für den Kultfilm „Easy Rider“. Aus dem Buch und dem Film erwächst ein Wunsch nach Freiheit, der manchmal sehr kostspielig sein kann. Jack Kerouac zahlte ebenfalls und starb im Alter von nur 47 Jahren an Erschöpfung.

Am 12. März jährt sich der 100. Jahrestag des wilden Beatniks, der auf einer Rolle Telegrafenpapier schrieb, damit er nicht jedes Mal ein neues Blatt Papier in der Hand halten musste. Er hatte nie Geld, aber diese Rolle brachte 2011 bei Christie's fast 2,5 Millionen Dollar ein – soviel zum posthumen Ruhm.

Kann man das heute noch lesen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es damals eines meiner wichtigsten Bücher im grauen Nachkriegsdeutsch war: Es zeigte andere Lebensweisen.

Jack Kerouac: „Unterwegs“, deutsch von Thomas Lindquist, Rowohlt, 384 Seiten, 10 Euro / „On the Road. Die Originalversion“, 576 Seiten, deutsch von Ulrich Blumenbach, 10 Euro.

Giulia Corsalini, „O Leitor Tschechow“

Dies ist ein Buch eines kleinen Freiburger Verlags, der sich auf italienische Literatur spezialisiert hat, und dieser Roman von Giulia Corsalini ist ein großer Erfolg. Corsalini lebt in den Marken und unterrichtet Literatur an der Universität.

Ihr erster Roman erzählt die Geschichte von Nina, die in Kiew lebt und sich um ihren kranken Mann kümmert. Ihre Tochter Katja will studieren, hat aber kein Geld, also reist Nina in die kleine Stadt Macerata in Italien und arbeitet dort als Altenpflegerin und in einem Supermarkt, um Geld in die Ukraine zurückschicken zu können.

In ihrer Freizeit sitzt sie in der Universitätsbibliothek und liest Tschechow, dessen Bücher sie schon immer geliebt hat. Und sie lernt einen russischen Professor kennen, der ihr anbietet, Kurse an der Universität zu unterrichten. Sie tut es, fast glücklich in all ihrer Einsamkeit, doch dann erkrankt ihr Mann und sie muss eilig nach Kiew zurückkehren. Doch sie kam zu spät und das kann Katja ihr nicht verzeihen.

Acht Jahre später: Nina arbeitet in Kiew am Institut für Russische Kultur und wird zur Teilnahme an einer Konferenz über Tschechow eingeladen – in Macerata. Sie kehrt gerne zurück, und sei es nur, um Professor Giulio de Felice wiederzusehen, mit dem sie eine seltsame Vertrautheit und Verbundenheit empfindet.

Und wir haben oft das Gefühl: Wir lesen Tschechow, weil hier nichts erklärt, beurteilt, bewertet wird – Dinge passieren, der Ton ist melancholisch und die Geschichte ukrainischer Frauen, die illegal im Westen arbeiten, um ihre Familien zu ernähren, ist erschreckend aktuell.

Giulia Corsalini: „Der Tschechow-Leser“, Nonsolo Publishers, 180 Seiten, 19,90 Euro

Mark Forsyth: „Eine kurze Geschichte der Trunkenheit“

In Europa gibt es Krieg und es gibt auch Karneval. Wir wollen nicht lustig sein, sondern lustig oder traurig: Wir trinken, dafür oder dagegen. Trinken gehört dazu, und das gibt es schon länger als den Karneval.

Früher konnte man wahrscheinlich nicht einmal aufrecht gehen, es gab vergorene Körner, vergorene Früchte, man hat gegessen – wen auch immer – und dann konnte man nicht mehr aufrecht gehen.

Alkohol gab es schon immer auf der Welt, sogar Tiere mögen ihn, aber die Menschen wissen es besser und sind im Trinken raffinierter geworden. Dieses gut informierte kleine Buch ist keine Geschichte des Alkohols, sondern tatsächlich eine Geschichte der Trunkenheit: wie die alten Griechen, die Azteken, die Wikinger, die Barjungen im Wilden Westen und wie Mutter Russland – Entschuldigung: bekommen konnte betrunken? Wie, womit und was waren die Folgen?

Man bekommt mit leichter Hand jede Menge historisches Wissen vermittelt, wir haben es hier mit einem wirklich unterhaltsamen Sachbuch zu tun. Der Autor – selbst ist kein Trinker!!! – Wisse, dass du in guter Gesellschaft dumme Witze erzählst, schreckliche Lieder anfängst und am nächsten Tag einen großen Kopf hast, aber das hält dich nicht davon ab, dich wieder zu betrinken. Manche Dinge sind unerträglich, wenn man nüchtern ist.

Nüchternheit, so unser Autor, sagt eher „Nein“, glückliche Trunkenheit sagt „Ja“ zum Leben, das wusste bereits der biblische Noah: Als er die Arche verließ, pflanzte er als erstes einen Weinberg. Und ein kleiner Liebesratschlag in dieser albernen Zeit, er stammt aus dem alten Ägypten: „Wenn du betrunken nach Hause kommst und dich ins Bett legst, reibe ich dir die Füße.“

Mark Forsyth: „A Brief History of Drunkenness“, Klett-Cotta, 271 Seiten, 10 Euro.

Alexis Ragougneau: „Opus 77“

Diese Woche ist im Unionsverlag ein Roman über Musik erschienen – für mich immer ein interessantes Thema, also habe ich ihn schnell in den 700 Seiten von Orhan Pamuk zur Ruhe gebracht – und wurde nicht enttäuscht.

Es ist eine Art Thriller, eine dunkle Familiengeschichte und eine literarische Hommage an die Musik, insbesondere an Schostakowitschs Opus 77. Bei diesem Stück handelt es sich um ein Violinkonzert aus dem Jahr 1947, das erst aufgeführt werden konnte, als Stalin schließlich starb und der Komponist nicht mehr im Exil war. .

Hier spielt es überraschenderweise eine berühmte Pianistin bei der Beerdigung ihres Vaters, wobei einfach die Violinstimme fehlt – ihr Bruder hatte es schon einmal gespielt. Wir untersuchten eine zutiefst gestörte Musikerfamilie: Der Vater war ein überheblicher Dirigent, der Bruder ein instabiler Geiger, die Mutter, die früher Sängerin war, verfiel in Depressionen und die Tochter hatte Erfolg, wurde aber starr und zurückgezogen.

Und nun, in dieser Beerdigung, zeigt sie mit Opus 77 die Dissonanzen in der Familie, die Zerstörung, die Enttäuschungen, wir hören bei der Lesung geradezu Ressentiments, Eifersüchteleien, Ambitionen, Leidenschaften, und natürlich lesen wir – nämlich die Geschichte von David , der fast zerstört wurde und von Ariane, die ihn nun mit ihrem bösen Spiel rächt.

Wir vertiefen uns in die Tragödie dieser Familie, und gegen Ende des Buches besuchen wir fast ein Konzert und lesen auch einen Roman. Für diesen Roman, der nun auch auf Deutsch erhältlich ist, erhielt der französische Dramatiker Alexis Ragougneau in Frankreich zahlreiche Auszeichnungen.

Alexis Ragougneau: "Opus 77", Duits de Brigitte Große, Unionsverlag, 224 páginas, 22 euros.

Annika Büsing: „Stadt des Nordens“

Beim Steidl-Verlag erscheint bald ein Buch, von dem er hofft, dass es viel Aufmerksamkeit erregt: ein Debütroman der Bochumer Lehrerin Annika Büsing. „Einmal Ruhrgebiet, immer Ruhrgebiet“, sagte sie in einem Interview. Sein erster Roman, Nordstadt, spielt dort, wo es schwieriger wird, meist in einem Schwimmbad.

Hier ist Nenê, die Protagonistin des Romans, Rettungsschwimmerin, weil das Schwimmen ihr geholfen hat, stark zu werden und einige schreckliche Dinge in ihrem Leben zu vergessen. Und hier schwimmt Boris, der wunderschöne Puma-Augen und durch Kinderlähmung verkrüppelte Beine hat, von Zeit zu Zeit.

Ganz langsam kommen sie sich näher, gehen ins Kino, darin immer praktisch und direkt, Boris mal zugänglich, mal nicht, in Lügen verstrickt, zutiefst verletzt von Provokationen – und doch entsteht eine Art Liebe. Nenê spricht später darüber und wir ahnen bereits, dass es kein gutes Ende nehmen wird.

Aber das ist das Schöne an diesem ebenso nüchternen wie poetischen Buch: Es gibt keine süßen Herzen, wo keine süßen Herzen sind. Es gibt Verletzung, aber auch viel Wut: „Manchmal nehmen wir ein Gefühl und verwandeln es in ein anderes. Wir nehmen Traurigkeit und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Angst und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Liebe und verwandeln sie in Wut.“ " Der erste Satz im Buch gehört ihr: „Ich liebe dich“, sagt Nene, und in der bitteren Kälte, die sie gerade beide draußen sind, fragt er: „Wird das bis zum Winter anhalten?“ Es hält nicht lange, aber es ist ein bemerkenswert erschreckendes Debüt voller Liebe und Wut.

Annika Büsing: „Nordstadt“, Steidl, 123 Seiten, 20 Euro. Das Buch erscheint am 28. Februar.

Elias Hirschl: „verkäuflich“

Der junge Mann, der hier sein Leben erzählt, ist Österreicher, gehört der rechtskonservativen Jungen Mitte an und ist sozusagen der Stolz der Slim-Fit-Generation: schmale Anzüge, teure Designerklamotten und -möbel, Porsche-Fahrer. Vor dem Spiegel übt er Sprechen, Lachen, Gehen und Haarekämmen wie sein Vorbild, Parteichef Julius Varga. In Varga erkennen wir leicht den intelligenten ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Kurz.

Unser Erzähler bewundert ihn vollkommen und sein Rhetorik-Coach rät ihm: „Finde dein Idol. Finden Sie Ihr Idol. Werde dein Idol.“ Das macht unser Held, der kein eigenes, sondern ein nachgeahmtes Leben führt, wie eine Art Karriereroboter, der nachts Koks spinnt, vermeintlich auf der Überholspur, aber immer mehr im Elend versinkt.

Ist das Satire? Nun ja, wenn es nicht so schrecklich vorstellbar wäre, dass reiche junge Leute, ohne Ziel und ohne eigene Meinung, nur auf den Schein achten, nur nachahmen, sich aber irgendwie in die Quere kommen. Wenn der Absturz kommt – und das wird der Fall sein –, kann ein Julius Varga immer mit dem Fall davonkommen, aber was bleibt seinen gedankenlosen, emotional verdorbenen Anhängern übrig? Sie brauchen nicht mehr ihren Rhetorik-Coach, sondern mehr denn je ihren Therapeuten.

Das sieht brutal, witzig und auch ziemlich beängstigend aus und erinnert an Bret Easton Ellis‘ „American Psycho“ vor 30 Jahren, die Geschichte von Patrick Bateman, der an der Börse mit Milliarden jonglierte und sich in ein Monster verwandelte. Unser Beispiel hier ist praktisch: gesellschaftsfähig.

Elias Hirschl: „Salonable“, Zsolnay, 256 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Doris Knecht: „Die Botschaft“

Ruth lebt in dem Haus, in dem sie einst mit ihrem Mann und ihren Kindern glücklich war, doch ihr Mann ist vor drei Jahren verstorben, die Kinder sind erwachsen und sie versucht, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Das funktioniert eigentlich super, allerdings erscheint in Ihren E-Mails eine anonyme Nachricht. Nur ein Satz: „Wissen Sie wirklich von der Affäre Ihres hübschen Mannes?“

Ja, das wusste sie, es schwingt immer noch in ihr mit, es macht es ihr schwer zu trauern, aber wer zum Teufel schreibt so eine E-Mail und warum? Ruth und wir Leser haben jetzt viele Seiten zu diesem Thema und die E-Mails werden immer giftiger. Sie verdächtigt ihren ehemaligen Liebhaber – doch sie war es nicht.

Und außerdem hat Ruth noch andere Sorgen, ihre Tochter Sophie bekommt ein Kind und will nicht sagen, von wem, ihr jüngster Sohn kommt über den Tod seines Vaters nicht hinweg, der älteste lebt in Amsterdam, er ist schwul, sie nicht Weil er nicht dein Freund ist, passiert etwas Cooles: Ruth trifft Simon, einen sehr interessanten Mann, der wieder ein wenig Glück in ihr Leben bringt.

Doch mit ihm stimmt etwas nicht, und immer, wenn sie sich besonders auf eine Reise freut, geht eines Nachts etwas schief – sehr seltsam. Und nach und nach wird die Geschichte zu einer Art Thriller: Woher kommen E-Mails? Was ist los mit Simon? Wem kann Ruth sonst noch vertrauen? Jeder kann einer verletzten und trauernden Frau mit zunehmendem Alter leicht Schmerzen zufügen. Wie man damit umgeht?

Das Buch ist aktuell, es enthält bereits die Corona-Zeit und den Lockdown, einen Lockdown, der Nähe und soziales Miteinander für uns alle noch schwieriger macht.

Doris Knecht: „Die Botschaft“, Hanser Berlin, 256 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Heinrich Steinfest: "Amsterdamse novelle"

Eine Seifenoper (von lateinisch: Seifenoper, die Nachrichten) ist eine kurze, spannende Geschichte, die, wie ich im College gelernt habe, ein „beispielloses Ereignis“ erzählt. Nach all den langen Liebesromanen habe ich kürzlich die „Amsterdamer Novelle“ des erfahrenen Geschichtenerzählers Heinrich Steinfest in die Hand genommen, um mich mit etwas „Unverschämtem“ zu entspannen – und ich wurde nicht enttäuscht.

Es geht um einen Mann namens Roy Poulsen, der als Maskenbildner in Köln arbeitet. Sein Sohn Tom lebt in Amsterdam und schickt ihm ein Handyfoto eines Fahrradfahrers in kurzen Hosen vor einem alten Haus an einer Amsterdamer Gracht. „Er sieht aus wie du!“, schreibt Tom. Poulsen sagt als erster: Das bin ich nicht, ich trage keine Shorts, ich war noch nie in Amsterdam, und ich fahre auch kein Fahrrad – aber je länger er das Foto betrachtet, desto verwirrter wird er bekommt. Es ist er.

Er kann sich nicht ausruhen, er fährt nach Amsterdam und schaut sich dort um, wo Tom das Foto gemacht hat. E: Er findet das Haus. Die Tür steht offen, Poulsen kommt herein, und was jetzt passiert, ist wirklich ein „empörendes Ereignis“, es geht um Mord und Betrug und Fantasie und Realität und ich verrate nichts, nur dass es eine Menge Spaß macht, sich darauf einzulassen Eine völlig verrückte Geschichte, die sowohl spannend als auch fantastisch, philosophisch und lustig ist, und ohne etwas zu verraten, zitiere ich das Fazit: „Roy rannte zurück zu seinem Fahrrad, stieg darauf und fuhr nach Westen, weg vom Haus. Das ist in Ordnung.“ . Klicken!“

Jetzt sind Sie an der Reihe, zu lesen und sich überraschen zu lassen!

Heinrich Steinfest: „Amsterdamer Novelle“, Piper, 110 Seiten, 15 Euro, E-Book: 12 Euro.

Paul Theroux: „Zahlen in der Landschaft – Begegnungen auf einer Reise“

Mit mehr als 30 Büchern ist der Amerikaner Paul Theroux einer der erfolgreichsten Reiseschriftsteller der Welt. Dies ist nun ein Vorlesebuch seiner wichtigsten Reiseberichte – sehr tröstlich in Zeiten, in denen wir selbst nur eingeschränkt reisen können!

Er spricht davon, zu berühmten Persönlichkeiten wie Liz Taylor, Robin Williams oder Michael Jackson zu reisen oder in die Fußstapfen anderer großer Reisender wie Joseph Conrad oder Paul Bowles zu treten. Theroux ist ein erfahrener Beobachter, der sich selbst nie zu ernst nimmt und sagt: Der wahre Reisende muss bescheiden, geduldig, allein, anonym und wachsam sein.

Wir haben es erraten, das ist kein Tourist. Ein Tourist geht für zwei oder drei Wochen irgendwohin, um sich zu entspannen, und kehrt dann nach Hause zurück. Der wahre Reisende lässt sich mitreißen, versinken in völlig fremden Ländern, Menschen und Umständen, von der Politik bis zur Küche eines Landes.

Und in diesem Fall geht es Theroux, wie der Titel schon sagt, hauptsächlich um Menschen. Eines der grotesksten Kapitel beschreibt, wie er mit Liz Taylor im Helikopter zu Michael Jacksons Neverland Ranch, diesem riesigen Kinderparadies, fliegt, und absolut bewegend ist der Spaziergang mit Robin Williams, der seine Depression und Drogensucht endlich überwunden hat und es ihm gut geht. neue Ehe gerettet werden – Theroux schrieb dies 1999 für die New York Times.

Wir wissen: 2014 wurde Williams erneut von einer Depression heimgesucht und er erhängte sich. Theroux‘ Geschichten über Menschen und Reisen sind klug, bewegend, etwas ganz Besonderes, ein Spaziergang durch Landschaften, ein Spaziergang durch das Leben selbst.

Paul Theroux: „Figuren in der Landschaft – Begegnungen auf einer Reise“, Hoffmann & Campe, 525 Seiten, 28 Euro.

Jo Lendle: „Eine Art Familie“

In einem Interview sagte die Autorin Jo Lendle: „An der Familie zweifeln wir am Anfang fast nie.“ Wir werden hineingeboren, aber irgendwann spüren wir, dass wir auf den Schultern früherer Generationen sitzen und wollen mehr wissen. Und so entstand „A Kind of Family“, ein Roman über Lendles Großonkel Ludwig, der als Arzt und Pharmakologe sein Leben lang Schlaf und Anästhesie erforschte, was auch eine Art Schlaf ist – wie tief, wie fällt man schläfst du, wie wachst du auf?

Er muss der Fremde sein, dieser Lud, wie er in der Familie genannt wurde. Er hinterließ einen Koffer voller Tagebücher, aus denen Lendle mit viel lebhafter Fantasie seinen packenden Roman über einen geheimen Wissenschaftler, eine verwaiste Nichte namens Alma Grau, die bei ihm lebt und sich in ihn verliebt, und Fräulein aufbaut Gerner. das hält das Haus zusammen.

Diese drei seien „eine Art Familie“, und der Roman sei auch eine Art Wissenschaftsgeschichte vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert – denn auch Lud Lendle erforschte die Wirkung von Giftgas in Kriegszeiten, die Politik und den Zeitverlauf ist Teil dieses schönen und umfassenden Romans voller Poesie, mit wunderschönen Sätzen wie diesen: „Die Zeit heilt nicht. Sie macht nur Leid, als ob es nicht mehr nötig wäre. Es ist da und es ist still.“

Lendle hat wunderbare Memoiren über seinen bizarr intelligenten Großonkel geschrieben, an den er keine wirkliche Erinnerung hat, „aber ich wünschte, es gäbe einen.“

Jo Lendle: „Eine Art Familie“, Pinguin, 368 Seiten, 22 Euro, E-Book: 19 Euro.

Otto Jägersberg: "Piano Bar"

Im neuen Jahr wird der Schriftsteller Otto Jägersberg 80. Er ist der Meister der kleinen Form, der pointierten Beobachtungen, der kleinen Serien, der Geistesblitze – er ist ein Flaneur durch Zeiten und Stile. So ein Mann passt in eine Pianobar, wo die Leute zuschauen und trinken und eine Pfeife oder Zigarre rauchen, und niemals in einem Sweatshirt oder Turnschuhen, sondern immer elegant: Hier schreibt ein Gentleman.

Und er schreibt zum Beispiel: „Zu Besuch bei alten Bekannten. Sie haben sich wieder verändert, obwohl sie gleich sind. Sie gefielen mir besser. Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der sich verändert hat.“

Er denkt über Liebe nach. „Liebe“, schreibt er, „ist immer da.“ Der Mensch wird ständig von und durch die Liebe bedroht. „Er lauert überall, vor ihm und hinter ihm.“ Streng genommen sollte man mit der Liebe vorsichtig sein. Und auch die Pianobar, in der unser Betrachter so entspannt zu sitzen scheint, offenbart ihre Tücken: „Er spielt kleine Stücke, der Pianobar-Pianist, kleine melodische Häppchen, die er zu einem Menü zusammenfasst. Er hört nicht auf und er tut es.“ Ich höre nicht auf.

In all dem liegt eine leichte Müdigkeit, und er kann sogar sehr wütend werden: „Ich habe nach der Hochzeit nicht mit einer weiteren Hochzeit gerechnet. Jetzt hämmerst du den Salat.“

Es macht Spaß, es zu lesen, man hinterfragt seine eigenen Ansichten, seine eigenen Erfahrungen, und wenn das Leben unerträglich wird, flüchten wir uns in Bücher, Bücher wie dieses: „Wir können darin alles nachlesen, was uns entgangen ist.“ Und dann können wir so entspannt sein wie dieser Autor: „Ich will den Schnee fallen sehen, nichts weiter.“

Otto Jägersberg: „Piano Bar“, Diogenes, 263 Seiten, 24 Euro.

Albert Camus und Maria Casarès: „Schreiben ohne Angst und viel – Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959“

Eine Liebesgeschichte in Briefen: Sie war die Schauspielerin Maria Casarès, weltberühmt durch den Film „Kinder des Olymp“, und er war der Nobelpreisträger Albert Camus, beide verliebten sich blitzschnell, als sie sich 1944 trafen. Mit gutem Gewissen heiratete er. Und zufällig treffen sie sich 1948 wieder und bleiben bis zu Camus‘ Tod ein Liebespaar.

Und sie schreiben Briefe, 865 sind erhalten geblieben und in diesem Buch zeugen sie von einer endlosen Leidenschaft, sie sind ein endloses und atemloses Gespräch, allein die Briefe aus dem Jahr 1950 füllen 583 Seiten! Ich nenne dieses riesige Buch Weihnachten, weil es fast nichts anderes als Liebe als Quelle des Lebens ist. „Meine Liebe, als ich deinen Brief erhielt, kurz bevor ich ihn öffnete, sagte ich mir, dass es an sich schon ein Wunder war. Ich drehte den Brief in meinen Händen um und liebte dich.“ (Er zu ihr) „Meine Liebe, wie schwer ist es, ohne einander zu leben?“ (Sie zu ihm) „Meine Liebe, zehn Jahre gemeinsamen Lebens vereinen zwei Menschen für immer im Herzen der Welt, und sie können sich nicht trennen, ohne sich vom Herzen der Welt zu trennen.“ (Du für ihn)

„Letzter Brief, in dem ich sage, dass ich am Dienstag dort sein werde, auf Wiedersehen, mein Prächtiger.“ „Ich freue mich so sehr über die Aussicht, dich wiederzusehen, dass ich lache, während ich das schreibe.“ (Er hält sie auf) Er hat sie nicht wieder gesehen: Vier Tage später, Anfang Januar 1960, starb Camus nach einem Autounfall.

Albert Camus und Maria Casares. „Schreibe furchtlos und viel – Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959“, Rowohlt, 1565 Seiten, 50 Euro

Adeline Dieudonné: „Von Bonobo Moussaka“

Natürlich gibt es auch gute Weihnachtsessen. Aber es gibt auch solche, bei denen man sich seufzend an den Tisch setzt und denkt: Wenn ich nur zu Hause wäre! Wenn Sie so etwas im Sinn haben, lesen Sie schnell diesen Monolog von Adeline Dieudonné, Gedanken beim Weihnachtsessen.

Die alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern sitzt mit Cousin Martin und seiner Musterfamilie im überfüllten Musterhaus, auch ein befreundeter Bankier mit Frau und Sohn ist eingeladen und nichts ist irgendwie interessant oder auch nur erfreulich. zusammen und explodieren. Und im Kopf der Mutter kreisen böse und bissige Gedanken über den Unsinn, über den geredet wird, über das Lügenritual, über all diese Lügen und unwürdigen Prahlereien, während sie, während die ganze Welt eigentlich andere Sorgen hat und nach Hause will, sie will sich bei Ihren Kindern für diese gescheiterte Nacht zu entschuldigen.

Und der seltsame Titel? Dieser lange Monolog spricht für sich selbst, ursprünglich ein Ein-Frauen-Stück, ein Stück, das wie ein Vergrößerungsglas untersucht, was mit uns und unserer Gesellschaft falsch läuft. Warum sind wir so herzlos? So eitel, so stolz? Sind wir traurig oder stur? Können wir vielleicht da rauskommen und Freunde sein?

Der Text ist ein Fluss aus Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen und Momentaufnahmen, er ist wie ein Lied – voller Wut und Liebe und endet mit der Frage, ob sich etwas ändern lässt: „Ich weiß immer noch nicht wie. Aber ich werde es schaffen.“ !"

Adeline Dieudonné,: „Vom Bonobo Moussaka“, dt. von Sina de Malafosse, dtv, 112 Seiten, 10 Euro.

Dorothy Gallagher: „Und was wollte ich dir sonst noch sagen“

Wenn mir die Bücherstapel zu hoch und zu viel werden, suche ich manchmal etwas ganz Enges, um mich von all den sperrigen Romanen zu entspannen. Es funktioniert nicht immer, aber dieses Mal war es das perfekte Buch: Dorothy Gallagher, And What I Wanted To Tell You, eine Art 122-seitiger Monolog.

Eine Frau erzählt ihrem Mann, wie sie jetzt lebt und erinnert sich an 30 gemeinsame Jahre. Denn Ben, ihr Mann, ist vor fünf Jahren plötzlich gestorben. Es fehlt ihr, mit ihm zu sprechen, deshalb schreibt und spricht sie jetzt darüber, wie sich New York verändert hat, wie sie in eine kleine Wohnung gezogen ist, welche alten Dinge sie mitgenommen hat und welche nicht.

Und am Anfang klingt alles wie „Ah, wenn du hier wärst“, doch im Verlauf der Geschichte kommt sie immer mehr zu sich selbst, entdeckt ihr eigenes Leben in der Einsamkeit neu und fragt am Ende: „Stell dir vor, dass du mich ansiehst.“ Auf der Straße würdest du mich sofort erkennen, meine Haare sind grau geworden ...“ Sie fragt, ob er jemals darüber nachgedacht hat, alt zu werden.

Sie spürt einfach ihr Alter, seit er weg ist. Sie erinnern sich, wie sie sagte: „Nicht jung sein? Undenkbar! Unmöglich: Und doch: Ohne an das Undenkbare zu denken, hätten wir das Unmögliche erreicht.“ Wenn sie etwas falsch macht, verpasst sie seinen Kommentar: „Du schimpfst nicht mehr mit mir, ich muss alles selbst machen.“

Wir erfahren, dass Ben seit 30 Jahren schwer krank ist, er hatte MS. Beide stimmten zu, doch sein Tod kam überraschend, ein Schock. Sie erzählt alles und es ist warm und angenehm zu lesen.

Dorothy Gallagher: „Und was wollte ich dir noch sagen“, deutsch von Monika Baark, Aki Verlag, 122 Seiten, 20 Euro.

Cees Nooteboom: „Endlose Kreise. Reisen in Japan“

Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, heute 88 Jahre alt und für den Literaturnobelpreis nominiert, war schon immer ein leidenschaftlicher Reisender. Mit 17 Jahren trampte er durch Europa, mit 24 wurde er als Segelanfänger auf einem Schiff in die Karibik angeheuert, er bereiste und schrieb in der ganzen Welt, vor allem aber zog es ihn immer wieder nach Japan, zu diesem Rätselhaften Land, für das er bekannt ist. Bei uns ist es schwieriger zu erschließen als bei jedem anderen auf der Welt.

Trubeliges Tokio versus leere Zen-Gärten, groteske Manga-Figuren versus weiß getünchte Geishas, ​​der schnellste Zug versus tiefste Meditation und Versenkung, wie passt das alles zusammen, Teezeremonie und Yamaha-Rennmotorräder? Jahrtausende imperiale Kultur und Spitzenindustrie?

Das Geheimnis dieser Diskrepanzen führte Nooteboom immer nach Japan, und dieses Buch sammelt Essays von seinen Reisen dorthin, die viele Jahrzehnte auseinander lagen. Um Japan zu verstehen, sagt er, müsste man sich und sein Leben irgendwann völlig verändern, und selbst dann: man würde nie dazugehören, man würde immer ein Gaijin bleiben, ein Außenseiter.

Aber darüber zu lesen ist faszinierend, fast meditativ und wirklich magisch. Dieses Land versteht man am besten anhand seiner Literatur, wenn wir Murakami, Kawabata, Oe lesen, wenn wir japanische Filme schauen – oder wenn wir ein Buch lesen, in dem ein Autor wie dieser Niederländer so völlig in das Alltäglichste versunken und glücklich darüber ist. Das freut auch uns Leser, ja.

Cees Nooteboom: „Endless Circles. Traveling in Japan“, alemão de Helga van Beuningen, Schirmer/Mosel, 256 Seiten, 29,80 Euro.

Robert Louis Stevenson: „Die Schatzinsel“

Der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson hat am 13. November Geburtstag – und auch wenn es kein außergewöhnlicher Geburtstag ist, er wurde 1850 geboren, möchten wir uns dennoch an sein berühmtestes Buch erinnern: Die Schatzinsel.

Als ich ein Kind war, gab es noch eine strikte Unterscheidung zwischen Büchern für Jungen und für Mädchen, aber mit Tom Sawyer, Robin Crusoe und Treasure Island – da treffen wir uns wieder, und selbst die Mädchen schauderten gern vor Long John Silver, dem Piraten mit Mit einem Bein greift er nach Captain Flints Schatz.

Die Geschichte erschien erstmals 1881 als Fortsetzungsgeschichte in einer Kinderzeitschrift und 1883 dann als Buch, das sofort ein Erfolg war und bis heute anhält. Stevenson litt an Tuberkulose, starb im Alter von 44 Jahren und während er krank war, zeichnete er für seinen Stiefsohn Lloyd eine Karte einer Insel, auf der ein Schatz vergraben war.

Später wurde daraus ein Buch, das Lloyd gewidmet war, und der Erzähler Jim Hawkins, der eine Crew zur Schatzinsel führt, ist ungefähr in Lloyds Alter – 17 Jahre alt – und mutig und mutig wie er. Jedes Kind kannte damals Bill Bones, den blinden Pew, Dr. David Livesey und natürlich Long John Silver.

Übrigens: Piraten ertrinken am Ende ihren Teil des Schatzes und das bringt Pech für alle; Jim Hawkins finanziert mit seinem Anteil seine Ausbildung – mal sehen: Auch Raubkopien können sich positiv auf junge Leser auswirken!

Robert Louis Stevenson: „Treasure Island“ (in verschiedenen Ausgaben wie dtv, 12,90 Euro)

Castle Freeman: „Herren der Situation“

Vom texanischen Autor Castle Freeman kennen wir so schöne Titel wie „Men with Experience“ oder „The Smarter Reloads“, schmale Romane über eine Kleinstadt namens Cardiff, und da ist immer etwas los. Was ist los? Ein pompöser Anwalt namens Armentrout aus New York taucht im ruhigen Sheriff Lucian Wing auf, großes Auto, große Worte, die Tochter seines Multimillionärs-Chefs ist mit einem schmuddeligen Jungen aus genau diesem Cardiff verschwunden. Der Sheriff muss sie sofort hierher bringen, sonst kommt es zu einem Unfall.

Gangstertrupps, angeführt von seinem Vater, tauchen auf und wollen ihn zwingen – doch sie berücksichtigen nicht die Zähigkeit und Intelligenz des Sheriffs, und am Ende entsteht ein wunderschöner Kleinstadt-Western, in dem auch das große Wildschwein mit Namen vorkommt Big John spielt eine wichtige Rolle.

Anstatt die ganze Zeit erschossen zu werden, lachen Sie die ganze Zeit, während sich die New Yorker Millionäre durch den Witz und die List des Möchtegern-Rednecks kämpfen.

Das alles ist lustig, genial lakonisch und endet natürlich gut für die beiden jungen Leute – die am Ende nicht der Endpunkt sind. Es geht darum, die Typen und Strukturen einer solchen Kleinstadt aufzuzeigen, in der alles perfekt funktioniert, weil man die Dinge etwas weniger hysterisch angeht als in Großstadtkreisen.

Castle Freeman: „Lords of the Situation“, Hanser, 182 Seiten, 20 Euro.

Anne Tyler: „Die Bedeutung des Ganzen“

Die amerikanische Schriftstellerin Anne Tyler wird am 25. Oktober 80 Jahre alt, deshalb möchte ich noch einmal auf sie aufmerksam machen – eine Frau, die mehr als zwanzig Romane geschrieben hat, immer über unspektakuläre „normale“ Menschen, alltägliche Geschichten wie alle anderen. Wir mehr oder weniger wissen.

Aber wie Anne Tyler es macht, mit wie vielen Feinheiten, mit sorgfältiger Zuneigung zu ihren Charakteren, mit viel versteckter Spannung – das hat ihr zweimal den Pulitzer-Preis eingebracht und sie zu einer der größten Geschichtenerzählerinnen der Welt gemacht.

Gerade ist sein Roman „Der Sinn des Ganzen“ als Taschenbuch erschienen, die Geschichte eines Computerspezialisten, der in seinen Alltagsritualen durch einen plötzlich auftauchenden Sohn völlig verwirrt wird. Aber man kann jedes Buch von Tyler lesen und findet immer Menschen und Schicksale, die auch etwas mit uns zu tun haben: In „Whims of Time“ verlässt Willa ihre Familie, um sich um ein Kind zu kümmern, das sie nie gekannt hat, in „Whims of Zeit.“ In „The Shining Blue Thread“ geht es um Familiengeheimnisse, in „Farewell for Beginners“ um einen Witwer, der sich nicht dazu durchringen kann, seine tote Frau drinnen zurückzulassen, in „Lost Hours“ um einen Mann, der bei einem Raubüberfall sein Gedächtnis verliert – kurz gesagt : Wohin auch immer wir gehen, Anne Tyler, wir sind mitten im Leben normaler Menschen.

Die Geschichten sind brillant erzählt, mit guten Dialogen, wir lesen sie mit Gefühl und Trost, und am Ende ist es irgendwie „der Sinn des Ganzen“. Entdecken Sie Anne Tyler im Verlag Kein&Aber, wo ihre Arbeiten auch in wunderschön gestalteten Taschenbüchern erhältlich sind.

Anne Tyler: „The Meaning of the Whole“, Deutsch von Michaela Grabinger, Kein&Aber, 224 Seiten, 13 Euro.

Natasha Wardin: „Treme of Nastia“

Von der Schriftstellerin Natascha Wodin wissen wir, dass sie als Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter in Deutschland geboren wurde und ihre Mutter im Alter von elf Jahren durch Selbstmord verlor. In diesem bewegenden Buch erzählt sie die Geschichte einer ukrainischen Emigrantin, die als Putzfrau beginnt, deren Schicksal mit ihrem eigenen verknüpft ist, die illegal wird, weil ihr Touristenvisum abläuft, und deren ganzes Leben nur aus Flucht besteht. , Halten, Angst, Enttäuschung. In diesem Elend und der Sehnsucht nach Nastia erkennt Wodin die Sehnsucht und das Elend seiner Mutter, aber auch die ewige Angst vor dem Kampf mit den Behörden, den Fallstricken der Bürokratie, dem Arbeiten bis an die Grenzen und dem immer anderen Scheitern. Nastja ist stark, geduldig, belastbar, doch auch sie „stößt allmählich an die Grenzen ihrer slawischen Belastbarkeit“. Und als Wodin eine Platte mit ukrainischer Volksmusik auflegte, passierte es: „Ich wollte Nastya mit Musik glücklich machen, aber stattdessen brach sie, die immer so geheimnisvoll und scheinbar sorglos war, in Tränen aus.“ und das Versinken aller Lebensträume, diese Tränen sind Gegenstand eines Romans, der fast knapp und nüchtern als Sachverhalt geschrieben ist und dennoch den Leser bis ins Mark berührt und erschüttert. Wie wenig wissen wir über den Schmerz der Menschen, die mit uns und unter uns leben.

Natascha Wodin: „Tränen der Nastja“, Rowohlt, 192 Seiten, 22 Euro.

Nina Bouraoui: „Geiseln“

So beginnt dieser Roman, der es in sich hat: „Mein Name ist Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter von zwei Kindern. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich bin für die Produktionssteuerung verantwortlich. Ich habe keine Vorstrafen.“

Das klingt wie eine Aussage in einem Verhör, und das ist es auch. Nachdem wir nun die wichtigsten Daten aus Sylvie Meyers Leben kennen, werden sie auf nur wenigen Seiten mit mehr Leben gefüllt, einem Leben, das dazu führte, dass sie ihren Chef bedrohte und sie eine Nacht lang als Geisel hielt. Dem Chef passierte nichts weiter, außer dass er eine Zeit lang Angst vor dieser sanftmütigen Frau hatte, die plötzlich mit einem Messer bewaffnet war.

Und warum hat Sylvie das getan? Denn das ganze Elend ihres Lebens, der Alltag, die Verachtung, die Ausbeutung, der Missbrauch explodierten irgendwann einfach, weil sie nicht fügsam sein wollte und sie sich für eine Weile frei fühlte. Es lohnt sich? Der Roman ist unvoreingenommen, aber Nina Bouraoui erzählt ihn so, dass wir Sylvie Meyer verstehen und dass sie nicht nur für kurze Zeit einen Mann als Geisel hält, der ihr moralisches Empfinden verletzt hat, sondern dass sie selbst, das Jeder, der in Fabriken wie ihr ausgebeutet wird, ist Geisel, Geisel seiner wirtschaftlichen Situation und seiner ständig verletzten Gefühle.

„Ich bin nicht verrückt“, schreibt Sylvie an ihren Mann, der sie verlassen hat. „Ich war aus der Mitte gefallen.“ Mit etwas mehr als 100 Seiten ist dies ein ebenso intimer wie zutiefst politischer und, allen Berichten zufolge, schockierender Roman.

Nina Bouraoui: „Geiseln“, deutsch von Nathalie Rouanet, Elster Verlag, 125 Seiten, 19 Euro, E-Book: 13 Euro

Jami Attenberg: „Es gehört alles dir!“

Jami Attenberg ist ein großartiger Geschichtenerzähler, dieses Mal ist es die Familie Tuchman in New Orleans, und alles spielt sich an einem langen, heißen Augusttag ab. Der Chef der Familie, ein skrupelloser Geschäftsmann und unfreundlicher Vater, liegt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus und die Familie stößt aneinander.

Eine ganz besondere Familie. Eine nette Mutter und immer geschminkt, ein Sohn, Gary, der diesen Vater nicht mehr sehen will und Alex, die Tochter, die über alles nachdenkt, was in dieser Familie schief gelaufen ist. Nach und nach offenbart das Buch, warum dieser Vater ein Monster war, warum die Mutter immer an seiner Seite und selten bei den Kindern war, und obwohl es sich um ernste Angelegenheiten handelt, lacht man beim Lesen ständig.

Jemand hat einmal gesagt, dass Jami Attenberg wie Champagner geredet hat, und da ist etwas dran: Es ist ein Witz, eine Frechheit, ein komischer Fluss, der das Lesen zu einem reinen Vergnügen macht, auch wenn man diese Familie lieber nicht treffen möchte.

Hier wird das Sterbebett eines eher unangenehmen Menschen ganz deutlich vor Augen geführt und man kann sich nur wundern: Manchmal gibt es keine Vergebung.

Attenberg ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Sie beschuldigt nicht, sie versucht zu verstehen, zu erklären und ihren Figuren zu zeigen, wie dicht das Netz aus Hass, Liebe, Schuld und Reue ist und wie sehr – auch dies – das Verhalten der Eltern das Leben der Kinder bestimmt. Die Tatsache, dass sie dies mit so viel Humor tut, macht das Lesen des Buches so unterhaltsam.

Jami Attenberg: „Alles gehört dir!“, Deutsch von Barbara Christ, Schöffling, 316 Seiten, 24 Euro.

F. Scott Fitzgerald: „Partytime – Geschichten aus den Goldenen Zwanzigern“

Wir Leser wissen, was wir an F. Scott Fitzgerald haben: zum Beispiel „The Great Gatsby“ oder „Tender Is the Night“ und natürlich wunderbare Geschichten über die wilden 20er Jahre, in denen er und seine Frau Zelda am glamourösesten waren Paar überhaupt. , nicht nur in den USA: Seine Auftritte sind legendär, seine Partys, seine Bäder in öffentlichen Brunnen, seine Kämpfe in der Öffentlichkeit, sein Luxus – aber wir wissen auch: Er war Alkoholiker und Zelda litt unter psychischen Problemen und landete in erbärmlichen Kliniken .

Der 24. September war Fitzgeralds 125. Geburtstag, aber im wirklichen Leben wurde er noch nicht einmal 45 Jahre alt. Anlässlich des Jubiläums hat der Diogenes Verlag ein wunderschönes Büchlein aus hellgrünem Leinen mit Golddruck herausgebracht, das sieben seiner besten Geschichten enthält, die wir in dieser schönen Ausgabe sicher noch einmal lesen werden.

Was für eine genaue Beobachtung der sogenannten High Society, welche Träume von einem außergewöhnlichen Leben beschreibt er! Herzzerreißend all die gescheiterten Liebes- und Lebenspläne, die Sehnsucht, aus Kleinstädten herauszukommen, endlich die richtige Person zu heiraten, ach ja, und diese schrecklichen Tanzveranstaltungen, wenn die falsche Person einen einlädt und alle Hoffnungen dahin sind. Frustriert und der Skandal, wenn man Ich weiß, dass du einen kurzen Haarschnitt für die Rebellion hast und plötzlich nicht mehr zur Gesellschaft gehörst ... Mit feinstem Pinsel skizziert Fitzgerald eine Gesellschaft, die auf dem Vulkan tanzt. Mit dem Börsencrash und dem Krieg war sowieso alles vorbei – aber diese tollen Geschichten blieben.

F. Scott Fitzgerald: „Partytime – Geschichten aus den Roaring Twenties“, Diógenes, 270 Seiten, 22 Euro.

Una Mannion: „Licht unter den Bäumen“

Alles beginnt in Faye Gallaghers Auto, es ist 1981, der erste Tag vor den Sommerferien, und Faye fährt ihre fünf Kinder zu ihrem abgelegenen Haus in den Bergen. Der Vater ist vor einiger Zeit verstorben, die Kinder vermissen ihn und mit der überarbeiteten Mutter ist es ziemlich schwierig. Und auch im Auto kommt es zum Streit mit der 12-jährigen Ellen. Die Mutter bleibt stehen, wirft Ellen aus dem Auto und fährt mit den anderen vier verängstigten Kindern weiter.

Es ist Nacht und es sind zehn Kilometer bis nach Hause. Was nun passiert und aus der Sicht der fünfzehnjährigen Libby erzählt wird, löst eine hochdramatische Reihe von Ereignissen aus.

Ellen fuhr per Anhalter mit und traf auf einen Mann mit langen weißen Haaren, der sie begrapschte und nicht dort anhielt, wo sie wollte. Aus Angst stürzt sie in einer Kurve aus dem fahrenden Auto und kehrt verletzt nach Hause zurück.

Die Kinder sagen ihrer Mutter zunächst nichts, doch ein Bekannter der Familie findet den langhaarigen Jungen und verprügelt ihn, und nun gerät alles außer Kontrolle. Dies ist eine psychologisch gut geschriebene Familiengeschichte über das Erwachsenwerden dieser Kinder.

Da sie mit sieben Geschwistern aufgewachsen ist, kennt Una Mannion nur allzu gut die starken Verbindungen und feinen Risse in Geschwisterbeziehungen und ist eine großartige Geschichtenerzählerin. Das Buch tut weh: Hier ist niemand wirklich glücklich und keine Familie funktioniert. Und doch steckt in allen auch eine mutige Liebe, die einen immer weiter voranbringen lässt.

Una Mannion: „Licht zwischen den Bäumen“, deutsch von Tanja Handels, Steidl Verlag, 337 Seiten, 24 Euro.

Marion Karausche: „Der leere Ort“

„Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklicher Sohn“ – so lautet das Motto dieser berührenden Familiengeschichte. Aus der Sicht einer Mutter, Marlen, erzählt Marion Karausche in ihrem Debütroman von einer glücklichen Familie, die langsam auseinanderbricht, weil Der kluge und fröhliche Student Sohn Kai verändert sich plötzlich drastisch: Er will nichts mehr mit seinen Eltern zu tun haben, er kommt nach den Ferien nicht zurück, und am Ende wird er auf der Straße erwischt, als er sein Auto und seine persönlichen Gegenstände verliert .

Er landet in der Psychiatrie, wo die fassungslosen und verwirrten Eltern versuchen zu verstehen, was wirklich vor sich geht. War es ein Drogenfieber, das Kai nicht loswerden kann? Er ist krank? Die Diagnose wurde gestellt: Schizophrenie. Kai hat Momente der Klarheit, wenn er die Pillen einnimmt, und ist apathisch oder wütend, wenn er es nicht tut.

Mit großer Intensität und Sensibilität erzählt Karausche diese Achterbahnfahrt zwischen Liebe, Verzweiflung, Hilflosigkeit, wir können uns vorstellen, wie schwer es ist, sich im Schleifstein von Kliniken, Ärzten, Polizei, Dienst gefangen zu halten und wie es fast unmöglich ist, eine würdevolle Atmosphäre zu haben Leben für eine solche Person. krank.

Marlen gibt niemals auf, nicht einmal für einen Moment. Wenn Ärzte, Betreuer und sogar Kais Vater nicht wissen, was sie tun sollen, ist sie da, um sich um seinen kranken Sohn zu kümmern, der kein Kind mehr, sondern ein Mann ist und zusehen muss, wie alles um ihn herum auseinanderbricht. Selten gibt es in einer Uraufführung einen solchen Wechsel von Sanftheit und Verzweiflung, von Drastik und Poesie. Ein unvergesslicher Roman.

Marion Karausche: „The Empty Place“, ohne & aber, 271 Seiten, 22 Euro, E-Book 17,99 Euro

Werner Herzog: „Die Geburt der Welt“

Als Regisseur wilder Filme wie „Fitzcarraldo“ oder als Autor außergewöhnlicher Bücher wie „Über das Gehen im Eis“ besucht Werner Herzog gerne sehr unwirtliche Orte, Orte, die den Menschen am meisten abverlangen.

In diesem neuen Buch beschreibt er eine Begegnung mit dem Japaner Hiroo Onoda, dem Mann, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1974 30 Jahre lang im Dschungel auf der Insel Lubang versteckte und die Festung nicht kontrollierte. Zu wissen, dass der Krieg vorbei war, war das Ende und er kämpfte für seinen Kaiser, gegen wen? Er hat alle Versuche, ihn dort zu finden, zunichte gemacht, er wusste, wie man sich tarnt, wie man sich versteckt, wie man überlebt.

Werner Herzog beschreibt dies in fast atemlosen Bildern von einer Intensität und Poesie, die ich schon lange nicht mehr gelesen habe. Er denkt, er ahnt, wie ein Mensch so etwas überlebt und erträgt, aber er kann sich auch auf Fakten verlassen, denn er hat den 2014 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Onoda kennengelernt und konnte mit ihm über alles reden Das .

Herzog war der Richtige, um diesen Mann zu verstehen, seinen Mut, seine Einsamkeit, seinen Stolz – und auch sein Leben oft am Rande einer Art Wahnsinn – was war die Gegenwart, was war die Vergangenheit, was war die Zukunft?

„Es gab keinen Beweis dafür, dass er wach war, als er wach war, und keinen Beweis dafür, dass er träumte, als er träumte. Die Dämmerung der Welt.“ Dies ist ein ganz besonderes Buch, geschrieben von einer ungewöhnlichen Person über eine ungewöhnliche Person. Und es ist auch: ein Buch gegen alle Bedeutungen von Kriegen.

Werner Herzog: „Der Anbruch der Welt“, Hanser, 127 Seiten, 19 Euro, E-Book 14,99 Euro

Dieter Forte: „Der Standard“

Dieter Forte, ein deutscher Schriftsteller, der lange Zeit in Basel lebte und dort 2019 verstarb, wurde vor allem durch seine Theaterstücke bekannt. Er hat aber auch tolle Romane geschrieben, mein Lieblingsroman heißt „The Pattern“.

Und wenn wir heutzutage so viel über Identität, Überfremdung und Einwanderung reden – ach, als gäbe es das nicht schon ewig! Es ist ein Muster, das sich seit Tausenden von Jahren durch die Menschen zieht, dass es Einwanderung, Auswanderung, Vermischung gibt und wie furchtbar langweilig es sonst wäre!

In diesem Roman, der den Auftakt zu einer Trilogie darstellt, erzählt Dieter Forte, wie eine Familie italienischer Seidenweber, die Fontanas, und eine Familie polnischer Bauern, die Lukacz, auf ihrer Reise durch die Jahrhunderte auf der Flucht vor politischer Verfolgung und religiöser Verfolgung unterwegs sind andere flohen vor Armut und Hoffnungslosigkeit, bis beide Familien irgendwann im 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet landeten.

Und Friedrich Fontana, der Einfache aus Italien, lernt Maria Lukacz, die Melancholische aus Polen, kennen, verliebt sich in sie, heiratet sie, und aus dem vielfädigen Muster des Lebens entsteht ein neues Bild, eine neue Familie. Und am Ende des Buches tauchen die Nazis auf, denen diese Mischung überhaupt nicht gefällt und die von der reinen Rasse faseln, als ob sie existierte.

Brillant erzählt, äußerst unterhaltsam und intelligent decken Fortes Bücher ein breites Spektrum von der Vergangenheit bis zur Zukunft ab.

Im August werde ich euch vier ältere Bücher vorstellen. Heute Nr. 3: Dieter Forte: „The Pattern“, S. Fischer, 320 Seiten, 15 Euro.

Daniela Krien: „Das Feuer“

Daniela Krien, Jahrgang 1975, hat mit ihrem Roman „Die Liebe im Ernstfall“ einen wahren Bestseller geschaffen. Und das neue Buch ist zwar deutlich ruhiger, hat aber auch das Zeug dazu, es ist eine wunderbare Lektüre, die mitreißt, mitreißt und unterhält – das ist schließlich die Aufgabe eines Romans.

Es geht um ein Paar, das seit 30 Jahren verheiratet ist, Rahel und Peter, freundliche und intelligente Menschen, die sich gut verstehen, doch Liebe und Leidenschaft sind nach so langer Zeit auf der Strecke geblieben. Peter kommt irgendwie zurecht und zieht sich zurück, Rahel schafft es nicht, leidet, sucht, kämpft, versucht wieder etwas Nähe zu finden, jenseits der täglichen Rituale und Spiele.

Wir sind beide in einem Ferienhaus, in das wir eigentlich gar nicht wollten, aber es gehört einem Freund, dessen Mann im Krankenhaus liegt und jemand sich um Haus, Garten und Tiere kümmern muss. Rahel und Peter machen das gewissenhaft, es beginnt ihnen sogar zu gefallen, und in der Abgeschiedenheit und in den täglichen Ritualen wird vieles freigesetzt: Wut, Enttäuschung, aber endlich reden wir, endlich kommt alles auf den Tisch, hier kann man zusammenkommen, Don Verlasse den Raum nicht. Weg.

Und diese Nähe, die Gespräche, auch die Wut – am Ende scheinen sie sogar die Liebe zurückzubringen. Und natürlich ist es eine andere Art von Liebe als in den vergangenen Jahren – aber es ist etwas, das hält und verbindet, und so ist dieser Roman ein schöner, ruhiger, hoffnungsvoller Trost: Ein erfolgreiches Leben ist möglich.

Daniela Krien: „Das Feuer“, Diogenes 272 Seiten

Eliette Abécassis: „Bei uns wäre es anders gewesen“

Schließlich beschäftigt uns nichts mehr als unser eigenes Leben, die Umstände und Beziehungen, in denen wir uns befinden, die Liebe, die uns scheitern oder glücklich machen lässt. Und jeder hat sich gefragt: Wie wäre es mit jemand anderem gewesen? glücklicher? Verbessern? Rechts?

Was wäre, wenn Amélie und Vincent nicht so jung, unerfahren und schüchtern wären, dass sie sich geküsst hätten, als sie sich das erste Mal trafen? Stattdessen verlieren sie sich aus den Augen, heiraten andere Partner, werden unglücklich, treffen sich immer wieder zufällig, fühlen sich zueinander hingezogen, haben keinen Mut zum Risiko – und so gerät ihr Leben aus den Fugen.

Aber: Wäre es zusammen wirklich so anders gewesen? Ist es nur die Richtung, die wir einschlagen, oder ist eine Art Scheitern immer unvermeidlich, wenn der Alltag an der Liebe nachlässt?

Was für ein schönes und intelligentes Buch zu diesem Thema: „Die Hälfte aller Fehler, die wir im Leben machen, sind auf überstürztes Handeln zurückzuführen, die andere Hälfte auf mangelnde Motivation.“ es ist durch?

Nein, sagt Abécassis, gib einfach niemals auf. Auch nach 30 Jahren kann sich jederzeit alles zum Besseren wenden. Du musst es einfach tun. Auch bei Amélie und Vincent, die gealtert sind? „Sie fragte ihn, warum ihre Liebe nicht möglich sei und er sagte, es sei nicht unmöglich, sie wüssten nur nie, wie viel möglich sei.“ Ich denke, es läuft gut. Auch bei uns?

Éliette Abécassis: „Bei uns wäre es anders gewesen“, deutsch von Julia Schoch, Arche, 144 Seiten, 18 Euro, E-Book: 14 Euro.

Sigrid Nunez: „Was ist los mit dir“

Die amerikanische Autorin Sigrid Nunez begeistert die Leser mit zwei schönen Büchern: In „A Friend“ beschreibt sie, wie eine Frau einen großen Hund erbt, der ihr Leben verändert, und in „Semper Susan“ beschreibt sie ihre Zeit als Partnerin von Susan Sontag in den er sich in seinen Sohn verliebte, und erzählt, wie schwierig dieser weltberühmte Schriftsteller war.

Beide Bücher zeichnen sich durch einen freundlichen, liebevollen und geduldigen Blick auf Menschen aus, egal wie schwierig sie sind. Und das gilt auch für den neuen Roman, der „What’s Wrong With You“ heißt und am Montag erscheint. Ein Buch über die einfachste Frage der Welt: Jemand trauert, jemand ist todkrank, was stimmt mit dir nicht? Sie sollten also fragen können.

Es geht um Mitgefühl, es geht um Freundschaft, es geht um einen verlorenen Liebhaber, einen sterbenden Freund, es geht darum, mit Geduld, Freundlichkeit und Mitgefühl zu leben und am Leben anderer teilzunehmen. Es ist ein beruhigendes Buch, weil man das Gefühl hat, man könnte ein guter Mensch sein, wenn man nur ein paar Dinge anders machen würde.

Und dass es alles andere als einfach ist, ein guter Mensch zu sein, weiß auch dieser kluge und einfühlsame Autor. Am Ende sagt er: „Ich habe es versucht. Liebe und Ehre und Mitleid und Stolz und Mitgefühl und Opferbereitschaft – wen kümmert es, wenn ich versagt habe.“

Dies ist ein Buch über Trauer und Verlust zugleich und dagegen: Es ist möglich, wenn man nicht härter wird. Was stimmt nicht mit dir? Manchmal so ein Buch.

Sigrid Nunez: „What You've Been Missing“, deutsch von AnetteGrube, Aufbau Verlag, 222 Seiten, 20 Euro.

Joana Adorjan: „Hallo“

„Ciao“ klingt beiläufig wie der Titel eines Romans und ist es auch – sehr modern und mit raffinierter Leichtigkeit erzählt, und beim Lesen weiß man manchmal nicht: Ist das Satire? eher bitter?

Man könnte sagen, es ist ein Buch über Menschen, die mit der Zeit gehen, und über Menschen, die sich von der Zeit fernhalten, insbesondere über die viel zitierten und berühmten „alten weißen Männer“.

Einer von ihnen ist Hans, er ist Zeitungsjournalist, verheiratet und seine Frau lernte eine junge Influencerin kennen, Xandi Lochner. Hans möchte unbedingt ein Porträt von Xandi Lochner machen, deshalb wird einem Praktikanten gesagt, er solle sich Notizen machen – er ist das nicht gewohnt und schimpft.

Plötzlich darf er nicht mehr in den teuren Hotels übernachten und wer weiß, wie viel er für Spesen ausgibt, Geld wird gespart, Dinge werden überprüft und das Treffen mit dem coolen jungen Xandi Lochner gerät völlig aus dem Ruder.

Er fühlt sich ihr sehr überlegen, doch sie verlässt ihn völlig. Außerdem gibt es Probleme mit den alternden Eltern, Probleme überall, und Hans kann mit den Problemen nicht umgehen, sodass er am Ende ziemlich dumm und zerlumpt dasteht, während die Zeit der jungen Internatsschüler und der Xandi Lochners gerade erst beginnt.

Johanna Adorján erzählt das alles schnell, intelligent, sehr amüsant und grausam: Man sollte kein Mitgefühl für jemanden erwarten, der so lange alle Privilegien hatte.

Über Hans‘ Katastrophen sagt der Autor lakonisch: „Und das war’s.“ Zack, Hans ist raus. So funktioniert das.

Johanna Adorjan: „Ciao“, Kiepenheuer & Witsch, 270 Seiten, 20 Euro, E-Book: 16,99 Euro.

Franz Kafka

Nur runde Geburtstage werden jemals gefeiert, aber bei einem so seltsamen Vogel wie dem Schriftsteller Franz Kafka macht es Sinn: Heute, am 3. Juli 1883, vor 138 Jahren, wurde in Prag dieser große, schlanke Mann mit dem durchdringenden Blick geboren, für wen Die Texte kapitulieren viele, weil in ihnen bereits vieles interpretiert wurde. Die Sache ist ganz einfach: Es gibt immer nur Angst.

Angst vor dem Vater, den Frauen, der Bürokratie, was für ein ängstliches kleines Ding, und dann so eine riesige Fluchtfantasie in meinem Kopf! Jemand möchte ein Käfer sein!

Käfer, einfach nutzlos für die Gesellschaft, nur im Bett bleiben, vielleicht ab und zu die Wände hochklettern, und ja, kein Sex, keine Ansprüche, kein anspruchsvolles Leben! Wir kennen das auch: An manchen Morgen liegen wir mit ausgestreckten Beinen im Bett, es ist nur noch die Rüstung übrig, wir wollen auch ein Käfer sein wie Kafkas Gregor Samsa, liegend und nicht funktionsfähig. Aber wir wissen, dass es böse enden kann: Am Ende wird man in den Müll geworfen.

An dieser Geschichte ist nichts Geheimnisvolles. Und so ist es bei Kafka überall: „Der Prozess“ und „Das Schloss“ reden von unmenschlicher Bürokratie, „es gibt Dinge, die scheitern nur an sich selbst“, heißt es. Ein grausamer Vater verkündet ein „Urteil“ über seinen Sohn, und das wissen wir alle! Also: Kafka furchtlos lesen. Seine Charaktere sind im selben Labyrinth dunkler Beziehungen gefangen wie der Rest von uns. Sie können 1:1 übernehmen oder Ihre eigene Interpretation hinzufügen.

Alle Werke Franz Kafkas erschienen auch als Fischer-Taschenbücher.

Piet Klocke: „Man muss geboren sein, um zu leben“

Auf der Bühne steht ein großer, dünner Mann, große Brille, rote Haare, er zappelt herum und sagt lustige Dinge mit mürrischem Gesicht, und als wir in die Hände klatschen, nickt er genervt und sagt: Meine Herren, hört auf, es ist okay, es ist eure Zeit.

Und das ist so ziemlich der einzige Satz, den dieser Fremde zu Ende bringt, alles andere hängt in der Luft, wird angedeutet, bewegt sich ins Groteske und Absurde, und wir lieben ihn, diesen Piet Klocke, von dem Angela Merkel nie nachgeahmt hat oder würden sie täglich banale politische Witze machen, deren Leiden in der Welt und ihren Tücken aber immer etwas Außergewöhnliches und zutiefst Melancholisches hat.

Und nun hat Klocke seine Gedanken, Gedichte, Überlegungen in einem Buch mit dem Titel „Man muss zum Leben geboren werden“, Untertitel: „Bekannte Unwissenheit“ festgehalten. Hier ist sozusagen alles unvollendet, bis ins kleinste Detail. „Für wetterempfindliche Menschen ist kein Wetter ein Segen“, kommentiert Klocke oder „Nichts gegen Lebewesen, aber dafür ist es nicht weniger unangenehm“ oder er fordert: „Einfaches Hardcore-Niveau!“

Dieser Philosoph weiß viel über das Leben, über Leiden, über Lachen, über das Sinnlose und über die Suche nach Sinn. Piet Klockes Buch mit vielen kleinen und kleinen Texten und vielen großen Gedanken sollte auf jedem Nachttisch stehen, auch für diejenigen, die normalerweise nicht lesen (es sollte da sein!).

Ein Bissen Klocke jede Nacht und das Leben wird erträglicher. „Ein fleißiges Eichhörnchen muss auch vergessen können.“ Piet, meine Herren, Applaus ist jetzt angebracht, Sie haben es gut gemacht!

Piet Klocke: „Man muss fürs Leben geboren sein“, Heyne Verlag, 250 Seiten, 14,99 Euro, E-Book: 11,99 Euro

Claire Berest: „Das Leben ist eine Party“

Das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist gut dokumentiert, sie selbst hat es in Briefen und Tagebüchern beschrieben, aber vor allem ihre üppigen und farbenfrohen Fotografien erzählen davon: von ihren Schmerzen und Verletzungen während ihres gesamten Lebens nach dem schweren Unfall, den sie als junges Mädchen erlitt , über ihre leidenschaftliche Liebe zum Maler Diego Rivera, körperlich und künstlerisch ein Riese, ein Riese, ein Mann, der sie ständig verriet, sogar gegenüber seiner eigenen Schwester, und sie dennoch genauso inbrünstig liebte wie sie ihn.

Frida Kahlos Leben und Gemälde wurden weitgehend entschlüsselt, aber jetzt können wir durch diesen Roman der französischen Schriftstellerin Claire Berest etwas mehr erfahren. „Das Leben ist eine Party“ – ja, Frida wusste, wie man feiert, aber sie schleppte immer ihren verletzten Körper, ihre verletzte Seele unter ihre wunderschönen aztekischen Kleider.

Diese leidenschaftliche Frau und große Künstlerin, die es wusste, Männer unter den Tisch zu saufen und selbst mehrere Affären hatte, unter anderem mit dem Revolutionär Leo Trotzki, der mit ihr in der mexikanischen Anstalt lebte, diese starke Frau wurde immer von Schmerzen gequält.

Berest spricht über die Höhen und Tiefen, die Reisen nach Paris und New York, die ersten Ausstellungen, den Beginn des Weltruhms. Dan Riveras Scheidung, seine zweite Ehe – und Fridas elender Tod. Es ist ein fesselnder, sehr poetischer und dennoch kraftvoller Roman über eine unglaublich faszinierende Frau und eine großartige Künstlerin.

Und an vielen Stellen glänzt die Geschichte wie Kahlos Gemälde, in die sich der Autor wie kein anderer hineinversetzen kann.

Claire Berest: „Das Leben ist eine Party: ein Roman von Frida Kahlo“, deutsch von Christiane Landgrebe, Insel Verlag, 221 Seiten, 22 Euro, E-Book: 19 Euro.

Deborah Kagel: „Mit Kind und Kagel!“

Wenn jemand mit Nachnamen Kagel heißt, ist es lustig, seine Kindheitserinnerungen „Mit Kind und Kagel“ zu nennen. Deborah Kagel hat es geschafft, du lachst. Dann liest man die Zwischenüberschrift und denkt: „Der Draht muss erhalten bleiben“. Das klingt bitter, wie ein Glück, das es vielleicht gar nicht gab. Und man fängt an zu lesen und wird in eine schwierige Familie hineingezogen.

Der Vater: der argentinische Komponist Mauricio Kagel, nicht nur in Köln ein Begriff, wo er hauptsächlich lebte und arbeitete. Die Mutter: ebenfalls aus einer nach Argentinien ausgewanderten jüdischen Familie, die Malerin Ursula Burghardt. Und zwei Töchter, Pamela und Deborah.

Deborah lebt heute in Amerika und hat dieses Buch geschrieben, um ihrer schwierigen Kindheit in einem Künstlerheim zu entfliehen, in dem Kinder früher eine Last waren. Und das hat sie sehr gut gemacht: mit klarem Blick auf den erhalten gebliebenen „Faden“, aber ohne Bitterkeit oder gar Hass.

So war es, und es war nicht leicht mit diesem Vater – es war nicht leicht für die Künstlermutter in seinem Schatten, es war nicht leicht für die Kinder, die nicht auf Spielplätzen, sondern in Konzertsälen und Museen aufwuchsen. Es gibt viel zu lachen, denn die Kagels waren äußerst unhöflich.

Doch oft spürt man, wie zwei Familienkünstler ihren Schatten auf die Kinder werfen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Deborah auch Künstlerin geworden ist. Ihr wunderschönes Buch mit vielen Bildern ist fröhlich, melancholisch und voller Respekt vor der Kunst ihrer Eltern, ihren Fotos, ihren Kompositionen.

Deborah Kagel: "Mit Kind und Kagel!", 260 páginas, 34 euros, de much-of-dots-publications.com

Adolf Winkelmann: „Wie Fotos, Boschmann und EU“

Mein Rat: Wenn Sie etwas schreiben wollen, denken Sie an einen Boschmann, jemanden, der das Gegenüber ist, jemanden, der fragt oder widerspricht. Und Sie haben bereits einen Grund, zu formulieren, was Sie sagen möchten.“

Und genau das hat Filmregisseur Adolf Winkelmann getan: Er hat den Boschmann erfunden, den es vielleicht gibt oder auch nicht, und spricht mit ihm über seine legendäre Ruhrpott-Trilogie „Die Abfahrer“, „Gede Menge Kohle“ und „Nordkurve“. „, diese verrückten Heimatfilme im coolsten Sinne.

Er hat bei Null angefangen, dieser wunderbar besessene Winkelmann, mit nur dem unbändigen Wunsch, irgendwie Filme in einem Bereich (und darüber!) zu machen, in dem es bis 1964 keine Universität, geschweige denn eine Kunst- und Filmszene, gar nichts gab: nur Arbeit , Minen, Kohle, Stahl, Bier an der Ecke und Tauben auf dem Dach.

Und genau diese Welt wird im Buch lebendig: „Unsere Heimat ist das Ruhrgebiet. Und in den Augen seiner Bewohner ist das Ruhrgebiet eine Großstadt mit mehr als fünf Millionen Einwohnern.“

Winkelmann, ein erfahrener Dortmunder, erzählt nicht nur von seiner Liebe zum Kino und seiner 40-jährigen Tätigkeit als Lehrer an der Filmhochschule. Er spricht über den Untergang der Kohlebergwerke, der die Brauerei zerstörte, und greift das Wort vom Strukturwandel auf, den er als „verlogenes Wort für das Mann-und-Maus-Drama vom Ende einer großen Industrie“ bezeichnet.

Ja, wie in „Viel Kohle“ heißt es: „Der Tag wird kommen, an dem die Säge sägen will“. Winkelmann ist Kult mit Herz und Verstand und sein Buch erfreut überall. Es ist nicht gut.

Adolf Winkelmann: „Als fotos, o Boschmann e eu“, Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop, 175 Seiten, 14,90 Euro.

Max Küng: „Fremde Freunde“

Jacqueline und Jean, ein Schweizer Paar, dem es gut, aber etwas besser geht, haben ein Ferienhaus in der französischen Provinz. Tolles Haus, groß, etwas schmutzig, verbraucht mehr Geld als erwartet.

Um mögliche Mitstreiter zu finden, die sich im Gegenzug für einen schönen Urlaub an den Kosten beteiligen würden, laden sie zwei befreundete Paare für eine Woche Urlaub ein – natürlich ohne zu verraten, worüber sie reden. Freunde? Nun ja, Kinder sind eher wie Freunde. Was macht dieser Felipe wirklich? Er lebt vom Geld seiner Frau Salomé. Und Bernhard ist ganz außer Atem, was hält Veronika von ihm?

Nun ja, so eine Woche mit fremden Freunden ist sehr anstrengend, es gerät außer Kontrolle, obwohl Jean jeden Tag leckere Mahlzeiten für alle kocht. Nein: ALLES gerät außer Kontrolle und nachts stehen in jedem der drei Zimmer Pärchen, die hasserfüllt miteinander reden.

Niemand liebt jemanden wirklich, und wenn ein Feind von außen kommt, wenn Autos zerkratzt werden und Steine ​​durch das Fenster fliegen – kann es keine Idylle mehr und keine Pläne für die Zukunft geben. Jeder möchte nur so sicher wie möglich aus diesem Schlamassel herauskommen.

Es ist böse, es ist lustig, es ist herzerwärmend, es ist brillant erzählt, und im Wissen um die Frustration falscher Erwartungen und der Unfähigkeit, ehrlich zu sein, analysiert der Autor diese seltsamen Freunde, sehr zur Freude von uns amüsierten Lesern. Die perfekte Urlaubslektüre, aber Vorsicht, nicht mit „Freunden“!

Max Küng: „Ausländische Freunde“, Verlag Kein&Aber, 431 Seiten, 25 Euro.

Rachid Benz: „Wenn ich Ihren Balzac lese. Die Geschichte meiner Mutter

Viele Autorinnen haben sich in den letzten Jahren mit ihren Müttern, mit ihrem Altern, mit Demenz, mit dem Tod, mit den lebenslangen Konflikten, die es zwischen Müttern und Töchtern gab, beschäftigt – darüber lesen wir bei Monika Helfer, Annie Ernaux, Tove Ditlevsen, Melitta Breznik – und das sind nur die, die mir in den Sinn kommen. Kinder neigen dazu, über ihre schwierige Beziehung zu ihrem Vater zu schreiben.

Und jetzt habe ich ein absolut wunderbares kleines Buch von Rachid Benz über seine Mutter gelesen. Gasoline ist Marokkaner, ein hochqualifizierter Universitätsprofessor, und seine Mutter ist eine einfache Frau, die fünf Kinder zur Welt gebracht hat und weder lesen noch schreiben kann.

Jetzt ist sie alt, sehr schwach, bettlägerig und ihre vier ältesten Kinder leben mit ihren Familien auf der ganzen Welt. Und der Jüngste schreibt: „Vor 15 Jahren habe ich den Gedanken an die Familiengründung aufgegeben und bin zu meiner Mutter in die kleine Zweizimmerwohnung gezogen, in der ich 45 Jahre zuvor geboren wurde.“ Ich kümmere mich seit 15 Jahren um sie.“

Er badet sie, wechselt ihre Windeln, füttert sie, die Krankenschwestern helfen ihm, aber das meiste macht er alleine, redet mit ihr, tröstet sie und: liest ihr Balzac vor, immer nur Balzac, einmal aus einer Audiokassette durchgelesen, sie liebt dieser Autor und will nichts mehr hören.

Das Buch ist weniger als 100 Seiten lang und strahlt große liebevolle Ruhe und Zärtlichkeit aus. Es endet mit dem Satz: „Mein größter Reichtum in diesem Leben ist, dass ich es lieben durfte.“ Und wie er beschreibt, dass Liebe in diesen Trauerzeiten lesenswert ist.

Rachid Benz: „Wenn ich Ihren Balzac lese. Die Geschichte meiner Mutter“, deutsch von Andreas Jandl, Piper Verlag, 96 Seiten, 16 Euro.

Ina Westman: „Die Fische beißen heute nicht“

Am Anfang stand die große Liebe zwischen Emma und Joel. Doch über die Jahre ist etwas zwischen ihnen gewachsen, sie führen ein tolles gemeinsames Leben und haben sogar eine Tochter adoptiert: Fanni aus Afrika.

Und dafür müssen sie den Menschen auf der Straße im hellen Finnland zuhören: „Waren hier keine Kinder?“ oder „Solange sie keine Terroristin wird!“ Emma, ​​die als Fotografin in Krisengebieten um die Welt gereist ist, versteht diesen Gedanken einfach nicht, er zermürbt sie.

Joel ist entspannter und außerdem hast du gerade einen Sommer auf einer abgelegenen Insel im Archipel verbracht, weit weg vom Trubel. Doch mit Emma stimmt etwas nicht, sie sieht Menschen, die nicht da sind, sie hat Halluzinationen und ist oft nicht für ihren Mann und ihre Kinder da.

Nach und nach erfahren wir, dass sie bei einem Attentat verletzt wurde. Ein Splitter steckte in seinem Kopf. Die Schrecken der Erinnerung überwältigen sie. Doch Joel bleibt ruhig, dem Kind geht es gut und ab und zu ist das Wetter so schön, dass die Fische anbeißen.

Und am Ende des Sommers gibt es neue Kraft, neue Ideen, wie es weitergehen soll, und wir lesen einen ruhigen, freundlichen, sehr schönen Roman, dessen Charaktere wir lieben gelernt haben. Und trotz der einsamen finnischen Späne erkennen wir unsere Welt wieder: die zerstörte Natur, die harte Liebe, die Unverständlichkeit von Kriegen, Armut, Grausamkeit. Verzweifeln Sie nicht, auch das vermittelt dieses poetische Buch. Trotz allem gibt es immer Licht und Zukunft.

Ina Westman: „Heute beißen die Fische nicht“, mare Verlag, Deutsch von Stefan Moster, 253 Seiten, 22 Euro, E-Book: 16 Euro.

Gustave Flaubert: „Bouvard en Pécuchet“

Als der große Schriftsteller Gustave Flaubert, der Mann, der den Roman Madame Bovary schrieb, vor genau 141 Jahren an einem Schlaganfall starb, lag das unvollendete Manuskript von Bouvard und Pécuchet auf seinem Schreibtisch.

Dies ist die Geschichte einer Männerfreundschaft: Zwei Büroangestellte treffen sich im Alter, freunden sich sofort an, ziehen mit dem Erbe des einen aufs Land und probieren im Leben und im Gespräch alles aus, was ihre Zeit zu bieten hat. In Wissenschaft, Philosophie, Landwirtschaft , Politik.

Sie sind Dilettanten in allen Bereichen, sie scheitern immer, geben aber nie auf und ihre Freundschaft übersteht jeden Misserfolg: Sie machen als Gärtner alles schlecht, am Ende klappt nichts, sie verbrennen Alkohol und die Flasche explodiert, alles, was sie kochen, schmeckt schrecklich und im Grunde genommen Alles philosophische Gespräch dreht sich im Kreis. Als das Dorf der beiden Verrückten überdrüssig wurde und sie rausschmiss, gründeten sie eine Doppelagentur, um Schriftsteller zu werden.

Der Roman ist (wenn man die Geduld hat, einen fast 150 Jahre alten Schelmenroman zu lesen!) sehr witzig, und die Komik liegt im Missverhältnis zwischen Anspruch und Können. Flaubert zeigt den typischen Kleinbürger seiner Zeit, der bei allem mitreden will und doch nur die Hälfte davon auf Lager hat.

Das Buch ist jetzt kürzlich in einer wunderschönen Gesamtausgabe übersetzt erschienen, mit vielen Anmerkungen und es ist altmodisch, aber das besserwisserische und widerspenstige Chaos widersprüchlicher Meinungen ist immer noch da.

Gustave Flaubert: „Bouvard und Pécuchet“, Wallstein, Hrsg. und übersetzt von Hans-Horst Henschen, 460 Seiten, 34 Euro.

Annalena McAfee: „Bloom“

Eve Laing ist Künstlerin. Sie malt hauptsächlich Pflanzen, riesig, beeindruckend, eine Ausstellung steht an und ihre beiden festen Helfer im Atelier sind damit beschäftigt, Leinwände aufzustellen und Pinsel zu waschen, was auch immer passiert – dafür kann man einen coolen, ruhigen jungen Mann gebrauchen, der sich auch bewirbt Assistent.

Doch seit Lukas Ankunft ist alles außer Kontrolle geraten. Er schikaniert die beiden Senioren ständig, bis sie gehen, und geht Eve so auf die Nerven, dass sie – doppelt so alt wie er – tatsächlich eine Affäre mit ihm beginnt, obwohl sie gut, wenn auch etwas langweilig, verheiratet ist.

Natürlich lebt sie davon, aber sie setzt alles aufs Spiel: ihr Zuhause, ihre Ehe, ihren Ruf. Ich verrate hier nicht zu viel, denn das Buch beginnt mit einem Spaziergang durch ihr altes Haus, bei dem Eva ihren Mann und ihre neue Frau durch die Fenster sieht.

Auf diesem nächtlichen Spaziergang durch London wird im Nachhinein alles erzählt – die ganze schreckliche Geschichte, die vor einem halben Jahr begann und für Eve in einer Katastrophe endet, menschlich, finanziell, künstlerisch.

Dies ist eine wirklich packende Romanze, in der sich die Liebe als das Gefährlichste erweist, was es geben kann – wenn man wirklich hungrig danach ist. Eve erinnert sich genau an das Lied von Stephen Stills: „If you can't be with the one you love, love the one you're with…“ Aber hier ging es furchtbar schief (und hat uns Lesern sehr viel Spaß gemacht!) . Die Autorin ist übrigens die Frau des berühmten Schriftstellers Ian McEwan, und sie kann mithalten!

Annalena McAfee: „Blossom Shadow“, deutsch von pociao und Roberto de Hollanda, Diógenes, 336 Seiten, 24 Euro, E-Book: 21 Euro.

William Boyd: „Trio“

Im Jahr 1968 war viel los auf der Welt: In Vietnam herrschte Krieg, Studenten marschierten auf die Barrikaden in Paris, Russen marschierten gegen Prag und Martin Luther King und Robert Kennedy wurden in Amerika ermordet.

Nur in Brighton, einem englischen Badeort, ist alles ruhig, denn dort spielt sich eine mittelmäßige Liebesgeschichte ab und alle Beteiligten haben ihre eigenen Sorgen: Die Hauptdarstellerin Anny wird von ihrer kriminellen Ex erpresst, das FBI ist hinter dem Regisseur Reggie her, der … will plötzlich nur noch Rodrigo heißen, beginnt eine Affäre mit dem Drehbuchautor, während seine Frau Elfrida, die keine Eifersucht und Schreibblockade mehr hat, fast an den Folgen des Alkoholkonsums stirbt und Produzent Talbot sich wegen seiner Homosexualität quält – immer noch ein hochsensibles Release-Thema in den Sechzigern. Kurz gesagt: viel Hysterie, Lügen, Geheimnisse an diesem Ort, an dem fast alles schief geht, jeden Tag eine neue Katastrophe.

Und Boyd, der alte Fuchs unter den Romanen, dem wir so viele Bücher, Theaterstücke und sogar den neuesten James-Bond-Roman „Solo“ verdanken, schafft es, diese Charaktere mit solcher Lebhaftigkeit, Witz und Mitgefühl darzustellen, dass wir uns mit ihnen anfreunden. Lese darüber.

Das Haupttrio besteht aus Talbot, dem Produzenten, Anny, der Star, und Elfrida, der Autorin. Die Geschichte wird aus ihrer Sicht erzählt und die ganze Verrücktheit des Drehs unterhält uns über 400 Seiten lang, denn es fühlt sich an – ja, wie ein rasanter Film. Genau das richtige Buch für diese schwierigen Zeiten!

William Boyd: „Trio“, deutsch von Patricia Klobusiczky, Kampa Verlag 424 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Susanne Abel, „Halt dich von Gretchen fern. Eine unmögliche Liebe“

Finger weg von Gretchen‘ – so warnte das US-Militär seine in Deutschland stationierten Soldaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – haltet euch von diesen deutschen Frauen, diesen Gretchens fern. Aber es passierte, und das nicht nur einmal: Menschen verlieben sich ungeachtet der Befehle der Armee. Robert und Greta auch (!), und sie lieben sich wirklich, wollen heiraten, Greta erwartet in diesen puritanischen Nachkriegsjahren einen Sohn von ihrem (noch mehr) schwarzen GI – und der wird als erster in den Koreakrieg geschickt eine Strafe, das Kind wird in ein Pflegeheim eingewiesen, dann zur Adoption freigegeben, die verzweifelte Greta landet in der Psychiatrie.

In dieser Geschichte geht es um einen gutaussehenden Radiomoderator, der verzweifelt ist, weil seine ältere Mutter langsam verrückt wird und dumme Dinge tut, die ihm in die Zeitungen einbringen.

Diese Mutter ist Greta, deren Geschichte von Krieg, Flucht und Liebe wir kennen. Der Sohn wusste nichts davon und erkennt nun, dass es ein anderes Leben gab, sogar eine Schwester. Wo ist sie? Allesamt: Brisanter Stoff, überzeugend erzählt, vielleicht etwas zu voller guter Zufälle und fast schon Happy Ends.

Aber: Die Geschichte der Mischlingskinder ist wahr, ziemlich brutal und absolut aufmerksamkeitswürdig – auch wenn es sich um einen wirklich fesselnden Unterhaltungsroman handelt, der weite Bögen von der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die Gegenwart spannt, in der das Schicksal die Oberhand gewinnt Und das nur, indem wir nach und nach die ganze Tragödie aufzeigen – vielleicht auch die Tragödie unserer Eltern, von der wir erst jetzt erfahren.

Susanne Abel, „Halt dich von Gretchen fern. Eine unmögliche Liebe.“ dtv, 485 Seiten, 20 Euro, E-Book: 16,99 Euro.

Rumena Bužarovska: „Mein Mann“

Das Titelbild zeigt einen Mann mit zerkratztem Gesicht: So gehen Sie mit Fotos um, wenn der Mann Sie im Stich lässt! In diesem Fall elf Jungen, elf Geschichten von Ehemännern, erzählt von elf verschiedenen Frauen, zwischen Wut, Enttäuschung, Spott und Überraschung.

Der eine betrügt, der andere ist machtlos und hilft seiner Frau großzügig, einen Liebhaber zu finden, mit dem sie nur vor dem Fernseher sitzt. Einer ist Arzt, aber er malt gern, und er malt nur das, was er als Arzt sieht – er ist Gynäkologe! Und jemand schreibt mit ihnen kitschige Gedichte und Vorträge, und sie findet seine Gedichte unbeschreiblich peinlich, aber als er nachts im Dunkeln zu ihr sagt: „Orchidee, mach auf!“ – wie die Dichter zu sagen scheinen – also auch er, schreibt sie, „also öffne ich mich.“ Oh! Es gibt also etwas namens Liebe!

Ja, in all diesen Geschichten gibt es Liebe, auch wenn es nur ein Seufzer über die Vergänglichkeit der Liebe ist. Mein Mann, du hast dich endlich für ihn entschieden und jetzt musst du weitermachen.

Die Autorin ist Mazedonierin und sagt, dass nach dem Zusammenbruch des Großgebildes Jugoslawien die alten patriarchalen Strukturen zurückgekehrt seien und dies hinter dem Rücken der Frauen geschehen sei. Die Wut darüber ist in jeder dieser feurigen Geschichten spürbar – aber auch der Wunsch, dass die Dinge wieder so werden, wie sie einmal waren ... die nackten Vorstellungen der Frauen davon, was „mein Mann“ ist. Und ich habe noch nie eine so schlecht gemachte Sexszene gelesen wie die zwischen Sanja und Toni.

Rumena Bužarovska: Geschichten über „meinen Mann“. Suhrkamp, ​​169 Seiten, 22 Euro. Geschichten. Suhrkamp, ​​169 Seiten, 22 Euro.

Albert Sixtus und Fritz Koch-Gotha (Illustrationen): „Die Hasenschule – Ein lustiges Bilderbuch“

Das dürfte heute heißen: „The Bunny School“. Es wurde schon als Kind gelesen und liegt heute noch zu Ostern im Buchhandel: „Hasenhans und Hasengretchen / Geht fröhlich von Pfote zu Pfote / Um sechs Uhr morgens / Durch die bunte Wiese.“

Sie gehen zur Schule, die Hasenmutter ermuntert sie, brav zu sein und Fräulein Hausmann zieht sie an den Ohren, wenn sie nicht brav sind: „Er muss jetzt in die Ecke.“ / Hey, er kann es sich leisten!“ Dieses Buch erfüllt keine Kriterien für ein gutes Kinderbuch: Die Verse sind recht einfach, die Bildsprache konservativ, die Pädagogik fragwürdig. Und doch lieben wir alle unsere Hasenschule, ob jung oder alt, und Hasenhans und Hasengretchen hüpfen seit 1924, also fast 100 Jahren, umher, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Was ist das Geheimnis dieses seltsamen Bildbandes? Wahrscheinlich nur das: Man lacht über das Bild, das die Familie Hase vermittelt, und dennoch besteht der Wunsch, genauso beschützt und geschützt zu sein. Denn der wütende Fuchs lauert im Dschungel.

Im Inneren herrschen jedoch Hasenmama und Hasenpapa, und im letzten Vers heißt es: „Wenn ich kein kleines Kind wäre, / würde ich am liebsten sofort ein Hase sein!“ Jetzt ist Ostern. Jetzt können wir alle auf diesem fröhlicheren Fest eine Weile Hasen sein und dürfen uns auf die würdevollen Verse des Kinderbuchautors Albert Sixtus freuen, die man sich sofort einprägen kann, und auf die nassen, muskulösen Fotos des Karikaturisten Fritz Koch – Gotha, der es geschafft hat gelungen ist, hat die Fähigkeit, ganze Generationen mit einer Hasengeschichte zu überraschen. Gott weiß, wie sie das geschafft haben.

Albert Sixtus und Fritz Koch-Gotha (Illustrationen): „Die Hasenschule – Ein lustiges Bilderbuch“, Esslinger Verlag, 144 Seiten, 40 Seiten, 10 Euro.

Dacia Maraini: „Trio“

Wir haben nicht nur unsere Pandemie. Mitte des 18. Jahrhunderts wütete die Pest auf Sizilien, und zu dieser Zeit wusste niemand etwas über das Virus und wenig über Hygiene, aber trotzdem halfen die Menschen einander bei der Quarantäne und bei der Flucht aus den Städten aufs Land.

Von dieser Flucht handelt das Buch „Trio“: Annuzza floh von Palermo ins Landesinnere von Casteldaccia, Agata von Messina nach Castanea, sie sind Freunde, sie schreiben einander Briefe, und der dritte des Trios ist Girolamo, Agatas Ehemann, der liebt sie, aber er ist auch in Annuzza verliebt. Und das Wunder ist: Agata ist nicht eifersüchtig, sie sagt: Ich hätte ihn lieber bei dir als irgendwo anders, und das sollte unsere Freundschaft nicht zerstören.

Und so gehen die Briefe hin und her und Girolamo auch, und alle zusammen überstehen die ganze schreckliche Katastrophe der Pest mit Geduld, Fürsorge und Liebe.

Der Italiener Dacia Maraini hat ein absolut schönes Buch über Toleranz in schwierigen Zeiten geschrieben, ein Buch über die Liebe, die, wenn sie wirklich Liebe ist, vergibt, tröstet und rettet. In den Briefen erkennen wir auch das Warten, die Wüste, die Langeweile, den Verlust von allem, was Freude macht – im 18. Jahrhundert wie heute.

Und da Agata schreibt: „Es scheint, als würde die Epidemie langsam nachlassen, heißt es, das Schlimmste sei überstanden.“ Aber es sterben immer noch Menschen.“ Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, trotz des Unmuts über immer neue Regulierungen und politischer Inkompetenz: Es sterben immer noch Menschen. Das kann niemand wollen.

Dacia Maraini: „Trio“, Duits von Ingrid Ickler, Verlag Folio, 144 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15 Euro.

Daniela Strigl: „Gedankenspiele über Faulheit“

Es ist kein Zufall, dass dieses Buch diese Woche erscheint: Am 22. März ist der Internationale Goof-Off-Tag. Man sollte jede ernsthafte Tätigkeit meiden, um das richtige Buch lesen zu können: „Gedankenspiele über Faulheit“ von Daniela Strigl.

Es ist kurz, klar, es ist für faule Leute, es ist interessant und es bestätigt, dass es großartig ist, faul zu sein. Faulheit kann eine Charaktereigenschaft oder nur eine Bedingung sein. Das Gegenteil ist Eifer, der hässlich macht, das wusste schon Karl Kraus. Faulheit klingt ekelhaft nach Fäulnis, verwenden wir das schicke Wort Faulheit – aber das ist wieder der Anfang aller Laster.

Der kluge Immanuel Kant brachte die Definition auf den Punkt: „Faulheit ist die Neigung, ohne vorherige Arbeit auszuruhen.“ Das bedeutet, dass Sie sich ausruhen, ohne vorher müde zu werden. Es ist wirklich schön, und lehrt uns die Bibel nicht auch, auf die Vögel zu schauen, die weder säen noch ernten, und der himmlische Vater sie dennoch füttert? Früher galt ich als faul, weil ich immer mit einem Buch in der Ecke saß.

Lesen ist auch eine Form der Verleugnung, aber ist es Faulheit? Auch Faulheit, fasst der Autor zusammen, sei eine Form der Freiheit. Wenn wir das Gefühl haben, nichts zu tun, können wir das Meiste – oder das Wichtigste – tun. Man muss manchmal nein sagen können! Wir denken an Herman Melvilles großen Dieb Bartleby, der, egal, was man ihn fragt, sagt: „Ich möchte lieber nicht ...“ Aber seien Sie gewarnt, es endet auch nicht gut.

Daniela Strigl: „Mindgames über Faulheit“, Droschl, 54 faule Seiten, 10 Euro.

Simone Meier: „Genießen“

„Reiz“ – der Titel des neuen Romans von Simone Meier ist geheimnisvoll. Wer provoziert wen und wie und warum? Kurz gesagt, es ist der Charme des Lebens, der Charme von Neu und Alt, der Charme von Liebe, Freundschaft, und die Art und Weise, wie es erzählt wird, ist auf jeden Fall sehr attraktiv. Erst nach und nach wird aus zwei Geschichten eine: die des Jungen Luca, der sich zum ersten Mal verliebt und auf unkonventionelle Weise mit seiner lesbischen Mutter zusammenlebt.

Sein Vater ist ein sehr berühmter Schauspieler, der Fall einer ehemaligen Mutter heißt nur F. Valerie hingegen ist mit F. befreundet, einem etwas zynischen Journalisten, der die Fälle satt hat und in ruhigeren Gewässern segelt. Eines Tages beginnt Luca als Assistent in seiner Nachrichtenredaktion und der Kreis schließt sich.

Das Tolle an dieser Geschichte ist die Art und Weise, wie sie erzählt wird: unbeschwert, lustig, aber ernst mit den Charakteren und Gefühlen. Luca ist noch jung und hat keine Ahnung, in welche Richtung sein Leben gehen soll, Valéria blickt zurück und sagt: Zuerst ist man nur als Kind und als älterer Mensch frei, in der Mitte steht das Laufband mit allen Verpflichtungen und Regeln.

Freundschaft ist ein Hauptthema in diesem schönen und liebevollen Roman, so wie uns Freundschaften letztes Jahr geholfen haben, die Pandemie zu überstehen. Und am Ende bleiben alle zusammen, Mutter und Geliebte, Valerie und F., Luca und seine neue Liebe Kia, und im letzten Satz heißt es: „Sie blieben zusammen wie träumende Tiere und warteten auf die Zeit.“ Und alle Traurigkeit wird „in die dunkelste Ecke der Tiefgarage des Vergessens“ verbannt.

Simone Meier: „Reiz“, Verlag No & But, 238 Seiten, 19,80 Euro.

Sonia Simmenauer: „Sollte es sein? Wohnen zu viert“

„Muss sein? Muss sein!“ Beethoven schrieb dies als Motto seines letzten Streichquartetts und „Muss es sein?“ heißt ein wunderschönes Buch, das erstmals 2008 erschien und nun endlich wieder in einer wunderschönen Taschenbuchausgabe erhältlich ist.

Es geht um Streichquartette. Nicht um Noten, sondern um die vier Personen, die auf der Bühne sitzen und ein Quartett spielen. Sonia Simmenauer leitet seit vielen Jahren berühmte Streichquartette und weiß genau, was hochexplosiver Stoff ist: eine extreme Lebensart.

Oft mehr zusammen als mit der Familie, auf Tour, in Hotels, auf Bühnen. Wenn jemand eine Lebenskrise oder ein körperliches Problem hat, betrifft das alle vier, und das hört man! Sie müssen ein Team sein, das der Gnade von Chirurgen oder Astronauten ausgeliefert ist. Jeder ist für sich eine Künstlerdiva.

Frauen, sagt Simmenauer, würden endlos debattiert, bis das Problem gelöst sei, und dann seien sie cool und gefasst. Die Männer tragen ihre Wut in das Lied hinein und donnern von der Bühne.

Das Buch liest sich wirklich wie ein Thriller und ist eine tolle Unterhaltung in Zeiten, in denen wir keine Konzerte veranstalten dürfen. Und bevor es zurück in den Konzertsaal geht, können wir hier lesen, wie ein Quartett hinter den Kulissen arbeitet.

Denn Kunst sei das eine, Nerven das andere und ganz wichtig, schreibt Simmenauer: Buchen Sie die Hotelzimmer möglichst weit auseinander! Nur so können wir vier bei einer künstlerischen Hochzeit Spaß haben. Aber wenn es funktioniert, wenn inspirierende Musik gemacht wird, geht es nicht nur um Können, sondern auch um Liebe.

Sonia Simmenauer, „Soll das sein? Das Leben zu viert.“ Berenberg Verlag, 198 Seiten, 16 Euro

Alexander Gorkov: „Kinder hören Pink Floyd“

Es sind die 1970er Jahre. Das Haus liegt am Stadtrand von Düsseldorf, der Vater ist der Chef und telefoniert viel („Frau Saarschmidt, das Fax aus Cleveland/Ohio ist noch nicht angekommen?“), die Mutter kauft in der Apotheke ein („Oh, die schöne Gorkow-Frau, die wieder Parfüm kauft“) und die Kinder lauschen Pink Floyd im Zimmer ihrer älteren Schwester. Der kleine Bruder ist es, der jetzt erzählt, wie es damals war, als Frau Schwerdtfeger noch auf der anderen Straßenseite stand und schrie, Frau Hackenbruch hätte Krebs, all die Metastasen, ja, der Herr gibt und der Herr nimmt!

Wenn Papa die Nachrichten im Fernsehen sieht, muss er ruhig sein, sonst wird er sich beschweren. („Anneliese, ich schaue hier die Nachrichten! Jetzt weiß ich nicht, was Giscard vorhat!“) Als er zu viel Gift auf die Rosen sprüht und die Kinder helfen müssen, schreit die Mutter: „Die Kinder sind es.“ Pink Floyd hören!" Ihr Vater redet nicht viel, aber er hört sie lieber, als dass Heino über die schönste Polin singt.

Die Atmosphäre dieses Romans ist so dicht, dass wir alles vor uns sehen: das Haus der Familie, die ausgestattete Küche, Mrs. Kakao."

Bei Gorkow liegt jedes Bild, jedes Wort, jedes Gefühl irgendwo zwischen Lachen und Tränen. Dies wird von jemandem erzählt, der mit Liebe denkt. Eine Zeit wird lebendig, die uns geprägt hat, und auch Pink Floyd hat uns mit ihrem „We don’t need no education“ geprägt. Was für ein sanftes, warmes, aber wunderbar lustiges Buch!

Alexander Gorkow: „Kinder hören Pink Floyd“, Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 20 Euro, E-Book: 17 Euro.

Amanda Cross: „Die endgültige Analyse“

Ich lese selten Krimis. "Wer hat das gemacht?" Normalerweise interessiert es mich nicht, und diese super gut geschriebenen skandinavischen Krimis sind normalerweise so blutrünstig, dass sie mich in meinen Träumen verfolgen. Aber jetzt gibt es einen Krimi, in dem Literatur zur Aufklärung eines Mordes beiträgt! Das ist etwas für mich.

„The Final Analysis“ von Amanda Cross wurde 1964 geschrieben und erscheint erst jetzt bei uns. Cross war ein Literaturwissenschaftler, der fälschlicherweise die Amateurdetektivin und Literaturprofessorin Kate Fansler erfand.

Sie löst den Fall einer ermordeten Patientin, die ihre Schülerin Janet Harrison war und sich plötzlich auf dem Untersuchungstisch ihres Freundes Emanuel wiederfindet. Und sie hatte ihr auch diesen Analytiker empfohlen! Und das war es ganz sicher nicht!

Kate fühlt sich also verantwortlich und macht es, und es macht wirklich Spaß, über die Methoden zu lesen, die sie dabei anwendet: Lesen zum Beispiel. Lesen? Nun, Bücher geben manchmal Hinweise und auch analytische Fähigkeiten helfen ...

Es ist ein schelmischer, nicht blutrünstiger und für uns Mädchen liebenswerter Krimi, und er ist wie Alice im Wunderland: „Wunderschöne Verdächtige verschwinden immer wieder und hinterlassen nur ihr Lächeln“, beklagt Kate, weil das alles am Ende verdächtig war , es ist nicht.

Und doch fehle es an Skrupeln, „und jeder Mangel an Skrupeln macht das Folgende nicht nur möglich, sondern schlicht unausweichlich.“ Das wissen wir auch aus der Literatur! Aber wer hat dieses Mädchen getötet und warum? Das müssen Sie selbst lesen!

Amanda Cross: „Die letzte Analyse“, deutsch von Monika Blaich und Klaus Kamberger, Dörlemann, 336 Seiten, 18 Euro, E-Book: 14 Euro.

Axel Hacke: „Fasziniert vom Acorn Pike“

Es ist Karneval und wir haben nichts zu lachen. Aber! Das tun wir! Axel Hacke hat erneut zugeschlagen mit einem Buch über die schrecklichsten Versprecher, Tippfehler und Vernehmer des weiten Sprachlandes. Er ist sozusagen der Erbprinz des Sprachlandes, denn er prangert alle Irrtümer der Sprache an und stellt sie in einen ernsten Zusammenhang, denn im Sprachland leben wir alle. Auf das Essen kommt es an – wie gut sollte Rinderschwansuppe sein? – über Märchen wie Aschenputtel oder das Weihnachtsoratorium, wo „Totter Zion“ zum „Toten Zughund“ wird, der furchtlose Refrain „Toter Zughund, freue dich!“ singen. Aber das ist wirklich ein Grund zur Freude. De Fruits de Mer In der Übersetzung wird aus „Meeresfrucht“ oder „Farfalle con pesto arrabiate“ dann „Schmetterlinge mit zerdrückter Wut“ – man trinkt Quantibein statt Chianti-Wein und freut sich einfach. Menschen machen Fehler, und Fehler können amüsant sein, wie ein Bäckereifenster, das „gefilzte oder nicht“-Donuts anbietet. Lasst uns fühlen Wir werden Tränen in den Augen bekommen, wenn die blaue Blume nicht tief im Wald blüht, sondern „die blaue Blume blüht im Wald von Tiftrines“. Ihr Weg zum Gänsekörper-Tattoo – das Wunderland der Sprache ist überall und dieses Buch ist ein echter Schuss aus der Schusswaffe.

Axel Hacke: „Der Zauber der Eichel“, Kunstmann Verlag, 263 Seiten, 22 Euro.

Isaac Rosa: „Happy End“

Dies ist die Geschichte von Angéla und Antonio. Sie verlieben sich, heiraten, bekommen Kinder, erschöpfen sich im Alltag und eines Tages stellen sie fest, dass ihr Glück zerbrochen ist und sie lassen sich scheiden. Wann, wo und warum ist etwas schief gelaufen?

Der Roman des Spaniers Isaac Rosa beginnt mit einem schlechten Ende und steigert sich zum Glück des Anfangs, das dann logischerweise das „Happy End“ des Buches ist. Angéla und Antonio wechseln sich in den Geschichten immer ab, was es spannend macht, wir erleben die ganze Geschichte aus beiden Blickwinkeln, gekonnt übersetzt von einem Mann und einer Frau.

Und wir erleben, wie das, was einst Leidenschaft war, nach und nach in kleine und dann größere Risse zerfällt wie eine morsche Wand. „Ich habe mich oft gefragt“, sagt Antonio, „ob Liebe nicht nur ein Märchen ist …“

Und während ich diesen schönen und bewegenden Roman über Liebe und Anti-Liebe so oft lese, denke ich mir: An Liebe mangelt es nicht auf der Welt. Doch es mangelt an lebenswerten Erwartungen. Was wir, was Angéla und Antonio wollen, träumen und hoffen wir im ersten Überschwang – der uns alle Liebe nimmt. Und irgendwann wird es, wie Ephraim Kison sagte, zu spät für die Wahrheit sein und dann hilft nur noch Lügen, Lügen, Lügen.

Ein sehr schöner und gut geschriebener Roman über die Tücken der Erinnerung und die Achterbahnfahrt der Liebe. Und wir erinnern uns an den ersten weltberühmten Satz aus Tolstois „Anna Karenina“: „Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“

Isaac Rosa: „Happy End“, deutsch von Marianne Gareis und Luis Ruby, Liebeskind Verlag, 350 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Tove Ditlevsen: „Jugend – Jugend – Sucht“

Tove Ditlevsen ist eine fast vergessene dänische Autorin, die in den 1920er Jahren in einem Arbeiterviertel Kopenhagens aufwuchs. Schon in jungen Jahren wollte sie schreiben, insbesondere Gedichte, aber in ihrer feindseligen Umgebung war dies fast unmöglich. Sie hatte große Mühe, rauszukommen, zog um, überlebte mit Jobs und veröffentlichte ihre ersten Gedichte, als sie noch ein kleines Mädchen war.

Dann kamen zwei unglückliche Ehen, ein Mann nahm sie Tabletten. Nach Einweisungen in Suchtkliniken, Rückfällen und Depressionen nahm sich diese schöne und talentierte Mutter von zwei Kindern 1976 das Leben.

Seine Arbeit ist gut und von großer Intensität. In drei Teilen auf insgesamt nur 450 Seiten beschreibt sie ihre Reise: Kindheit – Jugend – Sucht, so nennt man das. Der erste Teil ist bereits erhältlich, der zweite und dritte Teil werden im Februar erscheinen, und Sie sollten alle drei lesen, um in ein Leben einzutauchen, das von einem ständigen Kampf spricht, in dem aber auch die Sehnsucht nach Schönheit, nach Sprache, nach Poesie durchscheint hell wie ein Phönix aus der Asche. Sie beklagt sich nie und weiß, dass eine elende Kindheit eine Quelle der Inspiration ist: „... und ohne mein Wissen versinkt meine Jugend still in den Tiefen der Erinnerungen, dieser Seelenbibliothek, die ich bis zum Ende kennen und kennen werde.“ Mein Leben. Drei Teile von großer poetischer Kraft, eine bewegende Lebensgeschichte, und einer würde gerne Tove Ditlevsens Freundin sein und sie gegen den „schwarzen Rand der Angst“ erreichen, der sich über ihrem Leben abzeichnet.

Tove Ditlevsen: „Kindheit – Jugend – Abhängigkeit“, von Ursel Allensteins Dänisch, Aufbau Verlag, drei Teile, zusammen 450 Seiten, je 18 Euro.

Coco Chanel: „Die Kunst, Chanel zu sein“

In diesem Monat, am 10. Januar, jährt sich der Todestag von Coco Chanel zum 50. Mal, und ich finde diese Frau immer noch so faszinierend, dass ich Ihnen die Lektüre ihres Buches „The Art of Being Chanel“ empfehle.

Das könnte einfach ein ätzendes Stück Literatur sein! Und es ist wirklich Literatur, denn Coco Chanel war nicht nur eine talentierte Modedesignerin, sie schaffte es auch, wie in der Mode brillant zu formulieren, Menschen zu charakterisieren und zum Herzen zu gelangen.

Sie zog Damenkorsetts aus und fertigte Kleider aus losen Stoffen an (sie selbst konnte nicht nähen); Sie verbannte Pelz auf der Innenseite von Mänteln, keine Rüschen auf der Außenseite, Modeschmuck statt echtem Schmuck, das kleine Schwarze statt blumiger Kleider, sie erfand den Gürtel, mit dem Frauen ihre Handtaschen über der Schulter tragen können, um freie Hände zu haben etwas Besseres als eine kostenlose Geldbörse zu haben; und das berühmteste Parfüm der Welt ist immer noch ihr Chanel No. 5, das erste synthetisch hergestellte Parfüm.

Sie war eine der ersten, die ihr Haar kurz schnitt, rauchte ununterbrochen, heiratete nie, hatte Liebhaber und ließ sich von ihnen trennen, wie es ihr gefiel, arbeitete wie ein Pferd, wurde steinreich, ließ sich von nichts und niemandem beeindrucken und war voreingenommen. streng. Sie wurde geliebt und gefürchtet, dünn, zäh, Ende 90.

Und was hat sie mit ihrem Geld gemacht, außer gut zu leben? „Meistens kaufe ich Bücher. Um sie zu lesen. Bücher waren schon immer mein bester Freund.“ Coco als Model!

Coco Chanel: „Die Kunst, Chanel zu sein“, Coco Chanel erzählt ihr Leben, synchronisiert von Paul Morand, Schirmer, 280 Seiten, 19,80 Euro.

Annette Mingels: „Dieses schreckliche Glück“

Annette Mingels ist eine Autorin aus Köln, lebt aber seit Jahren in Amerika. Und hier spielt auch sein Roman mit dem verwirrenden Titel „Dieses schreckliche Glück“. Zunächst hat man das Gefühl, Kurzgeschichten zu lesen. Es tauchen immer wieder neue Charaktere mit neuen Geschichten auf, aber sie alle leben in der kleinen fiktiven Stadt Hollyhook, einem eher langweiligen Hinterland in Virginia, und nach und nach kreuzen sich ihre Wege, ihre Geschichten verbinden sich, ihre Lieben, ihr Kummer, ihr Scheitern – jeder weiß es Jeder hier und alles ist miteinander verbunden.

Wir haben es mit dem klassischen Episodenroman zu tun, bei dem sich von Kapitel zu Kapitel die Perspektive ändert und auch das, was als subjektive Wahrheit wahrgenommen wurde. Was für manche Glück ist, kann für andere eine Katastrophe sein, einfach „furchtbares Glück“.

Da ist zum Beispiel der erfolgreiche Arzt, der mit einer Japanerin verheiratet ist und ohne ersichtlichen Grund plötzlich nach Japan zurückkehrt. Sein Sohn Kenji wird Schriftsteller und erzählt in seinem ersten Roman Intimes über Hollyhook – zum Beispiel über Basil, der immer heimlich in ihn verliebt war und sicher war, dass Kenji keine Ahnung hatte.

Es ist, als würden alle Charaktere an dünnen Fäden durch das Buch schweben, ihr Leben ist zerbrechlich, zerbrechlich, sie sind voller Hoffnung, aber sie wissen auch nicht, wie sie zu diesem Glück gelangen sollen. Und wenn Sie das tun, ist es plötzlich erschreckend. Ein psychologisch sehr raffiniertes Buch, bei dem man am Ende das Gefühl hat, in Hollyhook zu leben, wo es einfach keinen Platz für große Lebenspläne gibt.

Annette Mingels: „Dieses schreckliche Glück“, Pinguin, 345 Seiten, 20 Euro.

„Der Hund, der Tunnel, die Fehlfunktion“

Friedrich Dürrenmatt, der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker, der diese Woche 100 Jahre alt geworden wäre, haben Sie uns heute etwas zu sagen? In der Schule lasen wir seine Stücke, an der Universität musste ich einen Artikel über seinen Roman „Der Richter und sein Henker“ schreiben – und dann vergaß ich Dürrenmatt wirklich, ich erinnerte mich nur noch vage an ihn als großen Moralisten.

Ich habe gerade herausgefunden, wie seltsam er sein kann! Sein Diogenes Verlag hat ein schmales Taschenbuch mit drei Geschichten, alle geschrieben in den 1950er Jahren. „Der Hund“ und „Der Tunnel“ sind kurze, bittere Parabeln, aber die längste, „Die Panne“ ist eine fantastische Satire: Ein Herr Fallen, Verkäufer , nicht besonders klug, oder, wie Dürrenmatt es ausdrückt, ein Mensch „in der Höhe“, der seine Gedankenkraft einschränkt, bleibt eines Nachts wegen eines Autoschadens auf einer Müllkippe stecken und landet als Gast in der Villa eines pensionierten Anwalts.

Am Abend lädt er drei weitere pensionierte Anwaltsfreunde ein, sie essen und trinken gut und spielen Fallen: Hat er in seinem Leben schuldig gemacht? Jeder hat auch Fallstricke, aber wie diese Anwälte auf subtile Weise das Wort in ihrem Mund verdrehen, ihr Leben auf den Kopf stellen, das Unverschämte in ihrem Verhalten entdecken – das ist erstaunlich, lustig und grausam zugleich.

Aber auch pures Lesevergnügen: Traps ist überrascht und erfreut: Ja, er ist fast ein Mörder! Sie fordern die Todesstrafe, nein, so etwas in der Art! Der Traps-Vertreter ist plötzlich eine Art Krimineller und endlich in seinem Leben: wichtig. Da ist etwas.

Friedrich Dürrematt: „Der Hund, der Tunnel, das Pech. Geschichten“, Diogenes Verlag, 100 Seiten, 9 Euro.

„Jeder wurde so ernst“

Neues Jahr, neue Möglichkeiten, und stimmt es, dass alle so ernst waren? Vielleicht ein bisschen, wegen Corona. Aber nicht ALLES und nicht SO ernst, und Corona bezieht sich im Gespräch der beiden Schriftsteller Martin Suter (72) und Benjamin von Stuckrad-Barre (45) eigentlich auf nichts.

Reich, zufrieden mit den Bestsellerhits, der Familie, der Lebenserfahrung des einen, nervös, beschäftigt, erschöpft vom jahrelangen Drogenkonsum des anderen. Sie reden über alles, Siri, Kochen, Ibiza, Geld und Verliebtsein und eigentlich redet nur einer und der andere macht ab und zu kluge, beruhigende Zwischenwürfe.

Stuckrad-Barre redet eigentlich nur über sich selbst, seine Drogensucht, seine Scheidungen, seine Liebeserlebnisse. Es scheint, dass er alle Fehler eingestehen will und Suter, einen sehr freundlichen Vater, tolerieren und vergeben kann.

Selten schlägt Suter ein Thema vor, aber Stuckrad-Barre ist nicht der Mann, der geduldig zuhört. Mit der Witzeschmiede von Harald Schmidt lernte er, schnell zu reagieren und Schläge auszuführen.

Das macht alles Spaß und hat viele sprachlich schöne Eindrücke, aber am Ende weiß man nicht: Warum sind diese beiden Freunde? Suter ist so entspannt, Stuckrad-Barre ist so beschäftigt. Hier ist nichts Ernstes, aber es macht auf jeden Fall viel Spaß.

Und das lustigste Kapitel ist eindeutig ihr Gespräch mit Siri. Und wissen Sie was: Siri ist die Einzige, die es ernst meint. Künstliche Intelligenz hat einfach keinen Sinn für Humor. Siri: „Das übersteigt möglicherweise meine Fähigkeiten.“

Martin Suter, Benjamin von Stuckrad-Barre: „Everybody Got So Serious“, 258 Seiten, Diogenes Verlag, 22 Euro

„Frisches Gedicht“

Alles ist geschlossen. Alles ist bewölkt. Wo sonst kann man etwas Lustiges zum Verschenken bekommen? In zweitausendeins. Es gibt vier urkomische Büchlein von Thomas Gsella: „Festgedichte“, „Fressgedichte“, „Trinkgedichte“ und „Genussgedichte“, jeweils wunderschön in Leinen gebunden und mit unglaublich witzigen Bildern von Rudi Hurzlmeier verziert.

Jetzt ist für alle da, für den Vielfraß, für den Betrunkenen, für den Geilen und für diejenigen, die einfach nur feiern wollen. Ich finde das alles sehr witzig, und heute werde ich es ruhig angehen lassen und mich über mich selbst lustig machen: Hier ist eines der „Fressgedichte“ über den Thermomix: „Rühren, mixen und zerkleinern, emulgieren, kochen, kneten, kochen, abwiegen.“ und verfeinern, Rote-Bete-Saft gelb machen, kochen, stampfen, kneten, Kohl ausbeinen, Rüben beschneiden, Gras schneiden, Hemden bügeln, E-Mails verschicken, Zähne putzen, in den Urlaub fahren, Handys aufladen, Socken flicken und das Dach erneuern, baden Kinder, mit dem Thermomix ist alles möglich.“

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten euch allen!

Thomas Gsella: "Fresspoems", Haffmanns Verlag em Zweitausendeins, 128 páginas, 12,90 euros.

„Büro mit Ausblick“

„Ein Buch zu schreiben ist ein schrecklich schwieriger Kampf, vergleichbar mit einer schmerzhaften Krankheit“, sagte der Autor George Orwell. Warum sollten Sie das also tun? Er sagt: Mach dich sichtbar. Frauen sind auf dieser Welt oft noch unsichtbarer als Männer und haben in der Literaturgeschichte kaum Tradition. Aber natürlich schreiben auch Frauen, und zwar unabhängig vom Geschlecht: Schreiben ist immer ein Akt höchster Konzentration. Wie funktioniert es?

Das wollte die Schriftstellerin Ilka Piepgras wissen und veröffentlichte ein Buch mit 23 Texten von Schriftstellern, die Aufschluss über ihre Arbeit geben – mal ernst, mal fröhlich, mal sehr lustig, wie die fantastische Anne Tyler, die im März mit einem Roman aufwartet. Aber dann kam das Osterfest der Kinder, dann bekam der Hund Würmer, im Mai ging die Spülmaschine kaputt, dann starb ein Onkel, dann musste er sich einen schwarzen Mantel kaufen, dann musste die Katze gegen Tollwut geimpft werden, und dann hatten die Kinder Wettkämpfe Fitness.

So kam endlich der Sommer, die Kinder im Sommercamp, nur ein Kind hatte eine Blinddarmentzündung, da musste man hin, und irgendwann konnte ich endlich schreiben, aber stattdessen saß ich auf dem Sofa in meinem Büro und schaute an die Wand. „Ja“, sagt Anne Tyler, und dann fragt mich eine Mutter vor der Schule, ob ich auch arbeite oder „Ich schreibe nur …“

Und Eva Menasse sagt: „Vieles beim Schreiben ist wie bei der Liebe; kommt auf die Zeit an." Eine großartige Sammlung intelligenter Gedanken von großartigen Schriftstellerinnen wie Mariana Leky, Meg Wolitzer, Hilary Mantel oder Sibylle Berg.

„Schreibtisch mit Durchblick“ herausgegeben von Ilka Piepgras, No & Buts, 286 Seiten, 23 Euro

Volker Weidermann, „Luz Ardente“

Volker Weidermann ist ein Autor, der vor allem über Autoren schreibt: über Vergessene, Verbrannte, Verbannte, auch über diejenigen, die sich ein Leben lang bekämpft haben, wie Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki Literatur.

Jetzt hat er einen kurzen Roman über Anna Seghers geschrieben, die aus Mainz stammte, vor den Nazis nach Mexiko floh und nach dem Krieg in die DDR ging, weil sie als überzeugte Kommunistin mehr Hoffnung in diesen Staat setzte.

„Burning Light“ beschreibt Seghers Jahre in Mexiko, 1941-1947. Und wir treffen eine Frau, die um das Überleben ihrer Familie kämpft, die vom Licht, den Farben, der Lebensfreude Mexikos verzaubert ist, die aber auch schweigt, wenn sie hätte sprechen sollen, und sich dem Diktat ihrer Partei unterwirft. Einen Autounfall überlebt sie knapp – oder war es ein Anschlag? Und schreibt weiter, nach seinem Welthit „The 7th Cross“, der sogar von Hollywood verfilmt wurde.

Weidermann fühlt sich sorgfältig in dieses Leben und Schreiben ein. Er hat auch ein Auge auf die anderen Auswanderer, die dort sind, und hat Europa immer vermisst, obwohl er fast im Paradies war. Aber zu überleben, wenn der Terror Ihr Heimatland erfasst – es ist nicht einfach. Es erforderte Kraft, Hoffnung und Mut, die enge Linie der Partei bei Bedarf in Frage zu stellen.

Das Buch ist zu einem so spannenden Stück Zeitgeschichte und Schicksal Anna Seghers geworden. Ein faszinierendes Leseerlebnis auf den Spuren deutscher Schriftsteller in einem, ja: „brennendem Licht“.

Volker Weidermann: „Luz ardente.“ Anna Seghers in Mexiko“, Aufbau Verlag, 185 Seiten, 18 Euro.

William Boyd: „Der Mann, der es liebte, Frauen zu küssen“

Wir verdanken dem schottischen Autor William Boyd wundervolle Romane wie „Restless“ oder „A Man’s Heart“, er hat sogar einen James-Bond-Roman geschrieben: „Solo“. Und jetzt können wir zwölf seiner Kurzgeschichten lesen. Sie alle agieren in Boyds Lieblingsumfeld: unter Schriftstellern, Schauspielern, Künstlern, in einer etwas pompösen Welt der Angeber, in der aber die Probleme des Lebens und der Liebe ebenso alltäglich sind wie sie: Männer werden untreu, Freundschaften gehen auseinander, die fantasievollen Geschichten gehen weiter . sehr dünnes Eis Und gute Vorsätze halten nicht lange.

Er dachte über sein Leben und seine Nachwelt nach: drei Jahrzehnte, drei Ehen, drei Kinder von drei verschiedenen Frauen. Wenn er so weitermachte und es schaffen würde, sagen wir achtzig, könnte er sein Leben als Vater von acht Kindern beenden ...“ Aber Ludo will das nicht, also hört von nun an mit der Untreue und immer mehr Ehen auf er küsste nur gelegentlich Fremde. „Der Mann, der gerne Frauen küsste“ – da ist er, und natürlich geht alles schief.

All die Katastrophen in diesen Geschichten bringen einen immer irgendwie zum Lachen, weil die Geschichte so klug, subtil und gnadenlos seziert erzählt wird – alle menschlichen Schwächen in der Liebe liegen auf dem Tisch. Und ich mag Zeilen wie: „Ich fürchte, er liebt mich. Was ist mit Männern los?“ Es ist auch schön, wenn jemand fragt, wie das Wetter ist. Antwort: „Machen Sie die Vorhänge auf, sehen Sie selbst.“ „Nein, es wird interessanter, wenn ich von dir höre.“ William Boyds Geschichten sind wie rasante Filme. Natürlich ist er auch Drehbuchautor.

William Boyd: Kurzgeschichten „Der Mann, der es liebte, Frauen zu küssen“, Kampa, 279 Seiten, 22 Euro.

Sophy Roberts: „Die vergessenen Klaviere Sibiriens“

Die britische Reisejournalistin Sophy Roberts ist auf ein völlig skurriles Thema gestoßen: Ihr Buch trägt den Titel „Siberia’s Forgotten Pianos“. Entschuldigung, was? Sibirien? Dieses riesige, unerbittlich kalte Land, jahrzehntelang ein Verbannungsort für Menschen, die die verschiedenen Regierungen lieber auf Feldern als auf Klavieren eingesperrt sehen?

Unter den Verbannten waren viele Künstler, hochgebildete Menschen, Kritiker, und manchmal nahmen sie ihr Klavier oder ihren Flügel mit ins Exil, spielten, gaben Konzerte, unterrichteten, etablierten hier an einem der entlegensten und unwirtlichsten Orte der Welt eine Musikkultur . Boden. Sophy Roberts begleitete diese Klaviere und ihre Geschichten, und wir Leser reisten mit ihnen und staunten.

Handelt es sich um eine Sachliteratur oder um einen Roman? Es ist beides: Es dokumentiert die Reisen der Klaviere durch Eis und Schnee mit genauen Daten und Orten, erzählt aber auch die begleitenden Geschichten von Menschen, Geschichten von innerer Stärke, Liebe zur Musik, Trost in einsamen Gegenden und schrecklichen Zeiten.

Der Komponist Peter Tschaikowsky sagte: „Ohne die Musik gäbe es Gründe, verrückt zu werden.“ Dieses wunderbare Buch erzählt von der russischen Musikkultur nicht nur in Petersburg und Moskau, sondern auch im fernen Sibirien, wo heute einige wertvolle Instrumente träumen.

Sophy Roberts hat ihre Geschichten und die ihrer Besitzer in einem Buch voller Wunder zusammengestellt. Beispielsweise hat sich ein Flügel schon immer bewährt, um bei Kriegen, Überfällen und Stromausfällen am Fenster zu stehen. An solche Klaviere haben wir noch nie gedacht!

Sophy Roberts: „The Forgotten Pianos of Siberia“ von Brigitte Hilzensauer, Zsolnay Verlag, 400 Seiten, 26,80 Euro. E-Book: 19,99 Euro

Charlotte McConaghy: „Zugvögel“

„Migrating Birds“ ist der erste Roman der irisch-australischen Autorin Charlotte McConaghy. Der Film spielt in nicht allzu ferner Zukunft und handelt vom Verschwinden der Küstenseeschwalben. Die Hauptfigur ist Franny, eine Ornithologin, die sich auf eine sehr gefährliche Reise begibt, um herauszufinden, was mit diesen Vögeln passiert ist. Und wie jede gefährliche Reise, die man zu unternehmen wagt, ist diese eine für sich selbst.

Franny schließt sich mit einer Gruppe unterdrückter Männer einem Fischerboot an, um den Flug der Seeschwalben zu verfolgen, der Vögel, die jedes Jahr die längste Reise der Welt unternehmen und dann plötzlich verschwinden. Die alten Seehunde wollen keine Frau mitnehmen, sie muss viel an Bord arbeiten und gewinnt so nach und nach den Respekt der Männer und vor allem das Interesse an ihrem Geschäft, woran die Fischer zunächst kein Interesse haben. Aber das ändert sich im Laufe der Zeit.

Nach und nach erzählt Franny von ihrem Leben, in dem es wenig Stabilität gibt. In einem Brief an ihren Mann schreibt sie: „Ich weiß nicht, wie ich die Welt so gestalten soll, dass ich sie kontrollieren kann.“ Sie interessiert sich sehr für Vögel und ihr Verschwinden, für das große Sterben in überfischten und verschmutzten Seen, findet aber auch ihren Platz in dieser ganzen Katastrophe.

Es ist ein Buch über eine tiefe Liebe zur Natur, aber auch über Kämpfe – tierische Kämpfe, menschliche Kämpfe, jeder möchte überleben und wie kann man nicht auf Kosten anderer überleben?

Charlotte McConaghy: „Migration Birds“, Fischer, deutsch von Tatjana Handels, 397 Seiten, 22 Euro.

Marta Orriols: „O momento entre os tempos“

„Mauro und ich waren viele Jahre lang ein Paar. Und dann waren wir es von einer Sekunde auf die andere nicht mehr. Er ist vor ein paar Monaten unerwartet verstorben. Ein Auto überfuhr ihn und noch mehr.“ Das entdecken wir auf der dritten Seite des Romans. Und dann kehren wir zu dieser Nacht zurück, und hier wird es spannend: Die Ich-Erzählerin Paula hat gerade beschlossen, nun endlich eine Familie mit Mauro zu gründen und möchte ein Kind haben.

Und das möchte sie ihm bei einem schönen Abendessen im Restaurant erzählen. Doch bevor sie dort ankommt, sagt er ihr: Paula, ich habe eine andere Frau kennengelernt, ich möchte Kinder mit ihr, ich verlasse dich. Und dann stieg er auf sein Fahrrad, fuhr los und kam bei einem Unfall ums Leben.

Wie gehen Sie mit diesem Verlust und dem völligen Verlust des Mannes um, mit dem Sie eigentlich Ihr Leben verbringen wollten? Was für eine Geschichte! Wir erleben Paulas Wechselbad der Gefühle zwischen Traurigkeit und Wut, wir entwirren in Rückblenden diese Beziehung zu ihr, wir lernen sogar die andere Frau kennen. Und wir erleben Paula – wie der Titel schon sagt – mittendrin: nicht mehr im alten Leben, noch in keinem neuen Leben, das man Leben nennen kann.

Die Katalanin Marta Orriols hat mit ihrem ersten Roman ein großartiges Buch geschrieben, eine Geschichte über Wut und Ratlosigkeit, aber auch über Liebe und Schmerz, und bei der Lektüre wird uns wieder bewusst, wie nah Liebe und Verlust, Leben und Tod, die Traurigkeit und das Glück beieinander liegen. . ein weiterer Laie. Nach der Lektüre möchtest du das Buch deiner Freundin leihen oder verschenken!

Marta Orriols: Der Moment zwischen den Zeiten. dtv, 288 Seiten, 20 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Ludger Fischer: „Fehler in der Küche“

Pilze und Spinat nicht aufwärmen! Muscheln isst man nur in Monaten mit R! Fleisch darf vor dem Grillen nicht gesalzen werden! Hast du das auch gelernt? Alles Unsinn. Und da diese Woche auf der Buchmesse so viel über neue Romane geredet wird, dass ich hier keinen weiteren loben möchte, tröste ich Sie mit einem wunderbaren Buch von Ludger Fischer: „Irrtümer in der Küche“.

Sie können nicht genug überrascht sein! Ist Meersalz gesund und schmeckt besser? NEIN. Salz ist immer Natriumchlorid, mehr nicht, auch wenn es „Fleur de Sel“ heißt und das Fünffache kostet. Kein Unterschied, nur Optik. Müssen Schnapsgläser mit warmem Wasser ausgespült werden? Um Himmels willen, nein, probieren Sie es einfach aus, Cognac in warmen Gläsern schmeckt schlecht...

Und so geht es Kapitel für Kapitel in diesem wunderbaren Buch weiter, das sich wie ein Roman liest. Zusammenfassung: Wir alle machen alles falsch oder verfallen in die alten Fehler unserer Mütter und Großmütter. Brot sollte niemals im Kühlschrank aufbewahrt werden! Ach nein? Nun, lassen Sie es draußen trocknen oder lassen Sie es in einem Topf formen. Eine längere Lagerung ist nur im Kühlschrank möglich!

Kleber löst ein Stück Fleisch über Nacht auf! Wer erfindet solchen Horror? Verschwörungstheoretiker, die erneut Alarm schlagen wollen vor der bösen Macht der Konzerne? Cola löst nichts, es enthält nur viel Zucker. Und die wichtigste Botschaft: Wurde Ihnen schon immer gesagt: „Der Tod liegt auf dem Küchenteller“? Es ist auch nicht wahr. Holzbretter sind sogar noch hygienischer als Plastikbretter und der Tod... kommt meist von woanders!

Ludger Fischer: „Fehler in der Küche“, Osburg Verlag, 260 Seiten, 20 Euro

Susan Sontag: „Wie wir jetzt leben“

Nach ihrem Tod im Jahr 2004 ist Susan Sontag, Schriftstellerin, Essayistin und Greta Garbo unter den Intellektuellen, aktueller denn je. Gerade ist eine ausführliche Biografie von Benjamin Moser erschienen, dann die cleveren Memoiren von Sigrid Nunez, „Semper Susan“, und jetzt fünf Kurzgeschichten aus den 1980er Jahren, „How We Live Now“. Sind diese Geschichten wirklich klassisch? Die Titelgeschichte ist beispielsweise eine atemberaubende Aufzählung von insgesamt 27 verschiedenen Personen, die über einen unbekannten Patienten sprechen. Es geht um AIDS, und die Krankheit wird in der Geschichte nicht einmal erwähnt. Hinter jeder dieser Figuren steht der Autor selbst, der versucht, das Phänomen AIDS zu verstehen. Es irritierte Susan Sontag immer, auf eine Essayistin reduziert zu werden, sie wollte Schriftstellerin werden. Aber seine Essays, zum Beispiel über Kunst, Fotografie und Krankheit als Metapher, sind einfach überzeugender als seine literarischen Versuche. Sie ist eine brillante Denkerin, keine brillante Geschichtenerzählerin, aber diese kleinen Geschichten erzählen uns trotzdem viel. Mit Begeisterung lesen wir, wie die 14-jährige Susan Thomas Mann im Exil besucht und kein vernünftiges Wort herausbringt, aber bereits die zutiefst bürgerliche Natur seines Daseins registriert und schreibt: „Wir sind beide nicht in Bestform.“ Das ist groß, oder? Das ist ganz Susan! Der zweite Teil von Sontags Tagebüchern heißt „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ – genau darum geht es in diesem Teil und was die kleinen Geschichten lesenswert macht.Susan Sontag: "How we live now", Hanser Verlag, 123 páginas, 20 euros, e-book: 15,99 euros.

Zora del Buono: „Die Marschallin“

Wenn Sie große, fette Bücher über ALLES mögen, dann sind Sie bei uns genau richtig. Zora del Buono erzählt eine Geschichte, die fast ein Jahrhundert umfasst. Es geht um eine Familie mit all ihren Höhen und Tiefen, um Politik und Liebe und Fehler, Erfolge und Misserfolge, und es ist auch eine wahre Geschichte, nichts ist erfunden und alles ist atemberaubend.

Denn die 1962 geborene Zora del Buono erzählt die Lebensgeschichte ihrer Großmutter, die ebenfalls Zora hieß und mit vier Brüdern im ehemaligen Jugoslawien aufwuchs, einer überzeugten Kommunistin und später größten Unterstützerin von Marschall Tito. 1919 lernte sie ihren Mann kennen, einen italienischen Arzt, dem sie nach Bari folgte, der ein berühmter Radiologe wurde und später Titos Leben rettete. Zora lebt heute in der Oberschicht Süditaliens, hat drei Kinder, bleibt Kommunistin, schmuggelt Waffen für die Guerilla und ist sogar in einen Mord verwickelt. Mutterschaft bedeutet ihr nicht viel, sie findet Kinder nicht besonders interessant, sie hasst alle ihre Schwiegertöchter, aber als ihre Kinder vor ihr sterben, zerbricht etwas in diesem Marschall, der ganze Generationen beeinflusst und dominiert. „Wenn sie ein Mann gewesen wäre“, schreibt ihre Enkelin, „wäre sie Major oder besser gesagt Marschall, vielleicht sogar Präsidentin geworden.“ ich mag ihn. Wie Josip Broz Tito.“

Im Moment ist es schwierig, einen realistischeren Roman mit interessanteren Charakteren zu finden: Es geht auch um Europa, das 20. Jahrhundert und den Beginn all der Probleme, die uns heute plagen.

Zora del Buono, „O Marechal“, Verlag C.H.Beck, 382 S., 24 Euro. E-Book: 18 Euro

Joachim Meyerhoff: „Hamster im Back River-Gebiet“

Der Schauspieler und Schriftsteller Joachim Meyerhoff schreibt stets entlang seines eigenen Lebens und verschönert die Fakten mit so viel Humor und Fantasie, dass seine Bücher zu den besten gehören, die derzeit in der deutschen Literatur erhältlich sind.

Es ging zum Beispiel um seine Kindheit in einer Psychiatrie, in der sein Vater Arzt war, um seine Jahre an der Schauspielschule in München, um die Liebe in der Provinz, und es war immer sehr lustig – aber jetzt geht es um einen Schlaganfall, der ihn umgebracht hat Mitten im Leben, er ist fast 50 Jahre alt, hat er es verstanden. Kann das noch lustig sein? Mit Meyerhoff ist das möglich.

Selbst als er halbseitig gelähmt im Krankenwagen sitzt, beobachtet er die keuchenden, ungelenken Sanitäter und macht sich sozusagen im Kopf Notizen. Er beschreibt den Krankenhausaufenthalt, die Krankenschwestern, die Ärzte, für ihn ist alles nur Geschichtenerzählen und alles irgendwie lustig. Er fragt sich, ob so ein Thrombus im Kopf auch etwas Gutes haben kann, vielleicht kann man danach plötzlich Fremdsprachen lernen und jodeln?

Er sieht in all dem Elend viel Humor, ist aber auch sichtlich schockiert darüber, wie schnell man völlig deprimiert ist, wenn ihnen so etwas passiert. Doch der Arzt zeigt ihm die Röntgenbilder und tröstet ihn: „Sehen Sie, Ihr ganzes Flussufer ist in Ordnung.“ Wilde Hamster laufen im Park – gibt es sie echt? Oder nur eingebildet im Rückstaugebiet? Und da haben Sie ihn, den Titel dieses fantastischen und äußerst unterhaltsamen Romans – der unbeschwert klingt, aber zu etwas Schwerem tanzt.

Joachim Meyerhoff: „Hamster im River Backcountry“, Kiepenheuer&Witsch, 307 Seiten, 24 Euro.

Margaret Laurence: „Der steinerne Engel“

Hagar Shipley ist in ihren 90ern und lebt mit ihrem Sohn Marvin, den sie für einen Idioten hält, und seiner Frau Doris, die sie für einen Idioten hält, zusammen. Sie hat ihnen ihr Haus überlassen, besteht aber immer noch hartnäckig darauf, dass es ihr Haus ist und sie darin machen kann, was sie will. Aber das kann sie nicht mehr und sie muss dringend in ein Pflegeheim. Doch Marvin und Doris können mit dieser sturen alten Frau nicht mithalten. Hagar ist in ihren Erinnerungen versunken, ihr Leben entfaltet sich vor ihr und wir sehen: Sie war schon immer so. Das Alter hat es nicht noch schlimmer gemacht, es bröckelte nur das letzte Stück Fassade. Sie weiß, dass sie keine nette Frau ist, „in einer fernen Spalte meines Herzens, einer versteckten Höhle, die zu tief ist“, sie gibt zu, dass sie wünschte, sie wäre netter gewesen, aber irgendwie bringt es das nie ganz hin: „Ich kenne nicht viele.“ Dinge auch. Fallstricke, denen ich geholfen hätte. Bevor die Zeit zum Sterben kommt, rennt Hagar erneut davon, fährt mit dem Bus in eine Gegend, in der sie früher glücklich war, verirrt sich, wird krank, wird nur durch Zufall gefunden – und nun muss sie ins Krankenhaus und findet heraus: Dies ist die letzte Phase. „Ich habe Angst“, kann sie endlich ihrem Sohn Marvin sagen. Beim Lesen landet man immer auf Hagars Seite und die Geschichte wird aus ihrer rohen Sicht erzählt. Ihre Stärke, ihr Lebenswille sind beeindruckend, und die kanadische Autorin Margaret Laurence, die 1987 im Alter von 60 Jahren Selbstmord beging, muss viel von dieser Persönlichkeit gehabt haben – den Stolz, die Stärke, aber auch das tiefe Fundament. Einsamkeit.

Margaret Laurence: „The Stone Angel“, aus kanadischem Englisch von Monika Baark, Eisele Verlag, 350 Seiten, 22 Euro

Patti Smith: „No ano do macaco“

Mein heutiges Buch wird Patti-Smith-Fans glücklich machen. Patti Smith, Rocksängerin, Dichterin, ist mittlerweile 70 Jahre alt und schreibt seit einiger Zeit kurze Memoiren – über ihr Leben in New York mit dem jung verstorbenen jungen Fotografen Robert Mapplethorpe, über ihren Ehemann, den Gitarristen Fred. Sonic“ Smith, für den er (und deren Kinder) jahrzehntelang seine Karriere aufgegeben hat – und nun ein Büchlein „Im Jahr des Affen“.

Es war 2016, der Affe gehört zum chinesischen Horoskop, und es war ein Reisejahr für Patti Smith und ein Jahr des Abschieds von sterbenden Freunden, darunter dem Dichter Sam Shepard, der ihnen bei ihrem letzten Text hilft. Patti schreibt über Verlust, über den Tod, über Freundschaft, über das Älterwerden, über das Unterwegssein.

Sie, die poetische Träumerin, findet wütende Worte gegen Donald Trump, ohne ihn beim Namen zu nennen – sie nennt ihn einen „unerträglichen gelbhaarigen Betrüger“ und seine Wahl eine „schreckliche Seifenoper“, aber das ist auch das Realistischste an diesen zarten Texten. und a etwas verträumt. Aber: „Das Dumme am Träumen ist, dass wir irgendwann aufwachen.“

Patti Smith sieht die reale Welt, obwohl sie immer versucht, die Radionachrichten schnell auszuschalten. Aber sie fühlt sich in der Welt der Musik, der Poesie und der Freundschaft zu Hause. Ihr Buch ist wie ein Trost für eine Wunde, die uns das Leben jeden Tag zufügt. „Dennoch“, schreibt sie, „glaube ich immer noch, dass etwas Großes passieren wird. Vielleicht morgen.“

Patti Smith: „Im Jahr des Affen“, von Brigitte Jakobeit, Kiepenheuer & Witsch, 200 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro

James Amigorena: „Nenhum-Platz ist lang oder genug“

Dies ist die Geschichte des jungen Juden Wincenty Rosenberg aus Warschau, der 1928 nach Buenos Aires auswanderte und seinen Namen in Vicente änderte. Mutter und Bruder bleiben zurück, er verspricht: Ich werde aufholen. Doch zunächst muss er sich selbstständig machen, und das tut er auch: Er heiratet, wird Vater und eröffnet ein Möbelgeschäft. Mit wachsender Besorgnis liest er die Nachrichten aus Europa und die Briefe seiner Mutter: Bist du im Ghetto? Ist hungrig? Gibt es ein Lager? Was passiert da wirklich?

Komm her, schreibt Vicente an seine Mutter, aber das ist unmöglich. Er ist fassungslos und wird immer stiller. Worüber soll er reden, wenn es ihm das Herz bricht? Und dann gibt es keine Buchstaben mehr – Stille über dem Ozean, lebst du noch dort? Und Schweigen in Vicente, der sich schuldig fühlt, weil es ihm gut geht. Er spricht mit niemandem mehr, auch nicht mit Rosita, stellt einen jungen Mann ein, der den Laden leitet, und wandert ruhelos durch Buenos Aires.

Er begibt sich in eine Art inneres Exil, der Originaltitel des Buches ist treffend: „Le Ghetto intérieur“, das innere Ghetto. 1945, der Krieg ist vorbei und Vicente ist genauso glücklich, er bekommt mit Rosita ein drittes Kind, das sie Victoire nennt, Victory. Diese Vitória ist die Tante des Erzählers Santiago Amigorena, der hier in wenigen sparsamen und tiefgreifenden Worten die wahre Geschichte seiner Familie, seines Großvaters, erzählt. Er, der Enkel, weiß genau, was passiert ist und kann die Lücken in den schrecklichen Vorahnungen des Großvaters schließen. Und er gibt keine Schuldzuweisungen.

Santiago Amigorena: „Nirgendwo ist weit genug“. Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis. Aufbau Verlag, 184 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro.

Rogge Curtis: „Cloris“

Herr. und Frau Waldrip ist seit 54 Jahren verheiratet. Sie sind im Ruhestand und bezahlen einen Helikopterflug über den Bitterroot National Forest. Es geht schief: Der Helikopter stürzt ab, der Pilot und Mr. Waldrip stirbt.

Cloris Waldrip, eine energiegeladene 72-jährige Frau, versucht nun, in dieser Wüste zu überleben. Rückblickend erzählt sie uns, wie ihr das gelingt, damit wir Leser sicher sein können: Sie schafft es. Es erzählt auch die Geschichte einiger Ranger, die in diesem undurchdringlichen Gebiet arbeiten, nach Cloris suchen und darum kämpfen, ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Das ist manchmal schwieriger, als mit einer Tasche und Trinkwasser aus einem Fluss durch das Unterholz zu waten, was Cloris wochenlang tut.

Jemand, der im Wald lebt, beschützt sie, bereitet immer etwas zu essen vor, macht ein Feuer. Sie sieht den Fremden mit Kapuze von weitem kommen, wir können erraten, wer es sein könnte, denn auch die Ranger suchen nach ihm. Und so fügen sich nach und nach zwei Geschichten zusammen, spannend, berührend und – soweit Mrs. Waldrip, der auch in völliger Wüste seine Manieren nie vergisst – teilweise sehr makaberkomisch.

Der jungen texanischen Autorin Rye Curtis gelingt es, den Überlebenskampf einer alten Frau in einer feindlichen Umgebung aufzuzeichnen, so wie Delia Owens in ihrem Bestseller „The Crayfish“ das Überleben der jungen Kya beschreibt. Dieser ist gewalttätiger und komödiantischer, und nicht nur Ms. Waldrip verändert sich drastisch, aber auch die Waldläufer, die nie aufhören, nach ihr zu suchen. Und der vermummte Mann? Es hat keine Chance.

Curtis Rye; „Cloris“, deutsch von Cornelius Hartz, C.H.Beck, 352 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro

Ulrike Ulrich: „Wie wir feiern“

„Sie muss diese Blumen loswerden.“ Das ist der erste Satz von Ulrike Ulrichs Roman „Während wir feiern“. Das hat mich an etwas erinnert, und ich habe einen Klassiker nachgeschlagen, in dem es auch um eine Party geht: „Mrs Dalloway“ von Virginia Woolf. Der erste Satz lautet: „Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selbst kaufen.“

Und wenn man diese neuen Romane mit Blick auf den anderen liest, gibt es viele Parallelen und natürlich haben beide überhaupt nichts miteinander zu tun. Ulrichs Protagonistin ist Alexa, die zum Schweizer Nationalfeiertag, dem 1. August, auf ihrer Terrasse eine Party plant, und es passiert immer etwas.

Die Gesellschaftsparty funktioniert nicht gut, weder bei Clarissa Dalloway im Jahr 1923 noch bei Alexa heute, weil die Außenwelt nicht in Ordnung ist und jeder ihrer Gäste ein anderes Problem mit sich bringt. Im Fall von Virginia Woolf begeht der traumatisierte Soldat Septimus Warren Smith am Ende Selbstmord und verdunkelt die Party, im Fall von Ulrike Ulrich ist es Kamal, ein von der Abschiebung bedrohter tunesischer Flüchtling, der sich um Zoltan, Alexas Freund, kümmert . Zu wenig Fürsorge und schon gar nicht nur aus politischen Gründen. Läuft „beim Feiern“ alles aus dem Ruder?

Das Buch ist eine intelligente Gesellschaftsanalyse. Wir wissen, dass wir in unserem ehrlichen, reichen Westen auf dem neuesten Stand sind. Folgen Sie den Armen. Was hält die Zukunft für uns alle bereit? Es spielerisch beschreiben zu können, ist die Kunst von Ulrike Ulrich. „Sie ist ungeschoren davongekommen. Aber dieser junge Mann hat Selbstmord begangen.“ Das sagt Woolf am Ende. Ist hier? „Es wird wieder getanzt.“

Ulrike Ulrich: „While We Celebrate“, Berlin Verlag, 270 Seiten, 22 Euro

John O'Connell: „Bowie Books“

David Bowie war ein manischer Leser und nahm auf jeder Reise einen Koffer voller Bücher mit. Er flog nicht gern, er las stundenlang in Zügen, er las seit seiner Kindheit, und was er las, durchdrang sein Leben, seine Lieder, sogar seine verrückten Fantasien. In diesem Buch listet der Journalist John O'Connell mit Leidenschaft und Können die 100 Bücher auf, die für Bowie am wichtigsten waren – es ist seine persönliche Liste. (Nur zwölf Frauen von 100 Autoren! Männer haben es geschafft.) Er liebte Thriller und Reiseberichte, Sachbücher etwa über englische Geschichte, Romane, Comics, und seine Leseliste ist wie die Geschichte seines Lebens: Van Burgess‘ „Clockwork Orange“ nahm er den Vorschlag an, sich in Ziggy Stardust zu verwandeln; Weil er Dante liebte, heiratete er seinen Iman in Florenz, die Lektüre von Capotes „Kaltblütig“ ermutigte ihn in seiner Rolle als Außenseiter, und Yukio Mishimas Bücher erlaubten ihm, locker mit seiner Bisexualität umzugehen und lehrten ihn auch: Der Mensch wird zu dem, was der Person will. wenn du es bewusst tust. Durch Übung werden Sie zu dem, der Sie sind.

Das ist sehr interessant zu lesen und mit dem eigenen Leseleben zu vergleichen. Schön ist auch, dass O'Connell am Ende jedes Kapitels einen Hinweis gibt, was man sich anhören oder wo man in dieser Richtung weiterlesen kann. Bowies Bücher sagen etwas über diesen Künstler aus, aber auch über die Zeit, in der er lebte, die 70er, 80er, 90er Jahre – eine Zeit, in der auch wir lebten und lasen. Und da sind dumme Kleidung, schlechter Geschmack, Abweichungen im Denken und Auftreten erlaubt: das nennt man Entwicklung.

John O'Connell: „Bowie Books“, KiWi, 383 Seiten, 16 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Clemens Berger: „Der Präsident“

Jay Immer ist Polizist, glücklich mit Lucy verheiratet und hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Präsident Ronald Reagan. Das heißt, wir befinden uns in den Achtzigern. Eine Werbeagentur stellt Jay Immer so profitabel ein, dass er als Agent in den Ruhestand gehen und mehr verdienen kann als je zuvor. Jetzt fliegt er mit Lucy quer durch die USA, weiht Häuser und Brücken ein, posiert für Fotos mit lokalen Politikern und Touristen, scherzt und hat eine gute Zeit. Er wird gebeten, ein Musikvideo zu drehen, in dem Gorbatschow die Mauer einreißt und Johannes Paul II. mitsingt – Doppelgänger wie er natürlich.

Aber Jay ist ein sehr ernster Mann und er mag die Politik von Ronald Reagan nicht, er mag die Lügen, die Kriege, die Art und Weise, wie er mit Gewerkschaften umgeht, und: Jay „war nicht bereit, Leidenschaften zu entwickeln.“ an Menschen, wo er sich für Regierungsfehler entschuldigt, eine Änderung der Klimapolitik verspricht, Kleinigkeiten ändert – undenkbar, wenn es YouTube damals gegeben hätte! abgeschlossen – Jay Immer ist nun der 40. Präsident der Vereinigten Staaten.

Doch der Autor dieser wunderbaren Geschichte, Clemens Berger, lässt sich nicht täuschen. Er zeigt seinen Helden, der er nicht sein wollte, als liebevollen, intelligenten und auch mutigen Mann, der versucht, das Unmögliche möglich zu machen, weil er in einem historischen Moment das richtige Gesicht hat. Und weil Menschen den Schein mehr mögen als die Wahrheit...

Clemens Berger: Der Präsident, Residenz Verlag, 335 Seiten, 24 Euro, E-Book: 16,99 Euro.

Karine Tuil: „Menschliche Dinge“

Auf den ersten Blick bilden Claire, Jean und Alexandre Farel die perfekt gebildete, wohlhabende und angesehene Pariser Familie. Die Elite. Hinter den Kulissen ist es anders. Claire und Jean sind, wie Karine Tuil es einmal so schön ausdrückte, „trainierte Simulatoren des Eheglücks“, sie benehmen sich wie das strahlende Paar. Doch Jean führt seit Jahren ein Doppelleben mit einer anderen Frau, und am Abend nach einer Party, auf der er als ehemaliger TV-Star geehrt wird, nimmt er manchmal eine junge Praktikantin mit; Claire verliebt sich unsterblich in Adam Wizman, einen Juden, der seine Familie für sie verlässt, und die Leidenschaft fesselt beide.

„Und wo soll ich wohnen?“ fragt Alexandre, der Sohn. Zuerst schicken sie ihn mit Adams schüchterner und unattraktiver Tochter Mila auf eine Party. Und am nächsten Morgen klopft die Polizei an Jeans Tür: Vergewaltigungsanzeige. Jean glaubt, dass es um den Praktikanten geht, aber es geht um Alexandre, der Mila denunziert hat. Und nun dreht sich ein Karussell voller Schrecken, das jeden und alles aus seiner gewohnten Umlaufbahn wirft.

Tuils Trick: Die angebliche Vergewaltigung aus verschiedenen Blickwinkeln erzählen, meist zwischen den Anwälten im Gerichtssaal – was ist die Wahrheit? Ist nicht wahr? Egal: Diese vom Autor genau sezierte Familie wird untergehen.

Karine Tuil hat bereits mit „The Greedy“ und „The Restless“ bewiesen, dass sie großartige Gesellschaftsromane schreiben kann. Mit „Human Things“ hat sie genau darum, also die Gefühle, die uns aus dem Gleichgewicht bringen, ein weiteres Meisterwerk geschaffen.

Karine Tuil: „Human Things“, Claassen, 380 Seiten, 22 Euro, E-Book 19,99 Euro.

Jhumpa Lahiri: „Wo ich bin“

Ist das wirklich eine Seifenoper? Es gibt Miniaturen, Schnappschüsse, ganz kurze Geschichten, mit den Titeln „Auf dem Bürgersteig“, „In der Buchhandlung“, „In der Sonne“, „Zuhause“ oder auch: „In der Stille“ – alle reagieren auf den Titel „Wo ich mich befinde“.

Mit dem Ich-Erzähler, der Mitte 40 ist, spazieren wir durch seine Stadt in Italien. Allein lebend, eine schüchterne Einzelgängerin, beobachtet sie aufmerksam ihre Umgebung und bemerkt Veränderungen in der Stadt – der alte und freundliche Papierkram verschwindet, an seine Stelle tritt eine Gepäckaufbewahrung. Und tatsächlich, eines Tages kauft sie einen Koffer – gibt es da eine Veränderung? Während ihrer Spaziergänge denkt sie: Könnte es ein anderes Leben für mich geben? Und ganz langsam entwickeln diese fast langweiligen Geschichten eine Art Reiz, denn sie lassen den Leser fragen: Wo bin ich? Am Telefon mit meiner Mutter, beim Gassigehen mit dem Hund, im Fenster, im Supermarkt ... Jhumpa Lahiri ist eine englische Schriftstellerin indischer Herkunft, und diese Herkunft ist in ihren Büchern präsent.

Sie erzählt oft Familiengeschichten darüber, wie sie von ihrer Abstammungslinie entwurzelt wurde. Mein Lieblingsbuch von ihr war The Lowlands, die Geschichte zweier Brüder, einer bleibt in Bengalen und wird als Terrorist erschossen, der andere heiratet die Witwe und zieht in die USA. Lahiri lebt schon lange in den USA und ist mehrere Jahre in Italien, und jetzt ist Italienisch ihre Sprache geworden. Das Lesen und Nachdenken über diese kurzen und zarten Geschichten ist fast wie eine kleine Meditation ...

Jhumpa Lahiri: „Where I Am“, op. Italienisch von Margit Knapp, Rowohlt, 155 Seiten, 20 Euro, E-Book: 14,99 Euro

Lily King: „Autoren und Enthusiasten“

Ich mag Romane, in denen es ums Schreiben geht. Nun geht es nicht darum, wie der Autor dasitzt und auf seinem Bleistift kaut oder auf den leeren PC-Bildschirm starrt, sondern darum, wie das Leben zur Literatur wird. Wie erzählen Sie, was Ihnen durch den Kopf geht – Liebe, Tod, Verlust, Glück, wenn daraus eine Geschichte wird, die über Ihr eigenes Leben hinausgeht, eine Geschichte, die uns alle berührt und interessiert?

Die amerikanische Lily King hat aus ihrer eigenen Erfahrung einen wunderschönen Roman gemacht. Als ihre Mutter starb und sie mit einem Berg Schulden und einem völlig ungeplanten Leben zurückblieb, begann sie zu schreiben – über eine Frau, die ihre Mutter verlor und ... wir haben es erraten.

Es gibt zwei Männer, die sich Casey, wie der Protagonist im Buch heißt, nicht aussuchen kann, es gibt die Schreibversuche, die Manuskripte, die von allen Verlagen immer wieder zurückgegeben werden, und es gibt den verrückten Vermieter, in dessen Garage sie wohnen und der ihr tatsächlich sagt: „Weißt du, ich bin überrascht, dass du denkst, du hättest etwas zu sagen!“

Und sie hat etwas zu sagen, diese Casey. Über die Unsicherheiten der Liebe, die Trauer über den Verlust der Mutter, über Freundschaft und darüber, wie man den richtigen Weg im Leben finden muss und kann, auch wenn manche Knoten bereits blockiert sind.

Die Autorin schreibt für eine Literaturzeitschrift und widme diesen Roman „allen Frauen, die in alten Pantoffeln auf dem Bürgersteig stehen, und allen anderen, die an einem Traum festhalten und Gefahr laufen, verloren zu gehen“.

Und ich füge hinzu: Das ist definitiv ein Roman für Männer, die wissen wollen, was Frauen denken und fühlen.

Lily King: „Writers & Lovers“, C.H.Beck, 319 Seiten, 24 Euro, E-Book 17,99 Euro

Jami Attenberg: „Nicht mein Ding“

Andrea Bern ist 39 Jahre alt, lebt in New York und möchte weder Mann noch Kinder. Aber für eine solche Entscheidung muss man sich ständig rechtfertigen, wenn alle um einen herum heiraten und Kinder bekommen. Andrea hat einfach das Gefühl, dass das „nicht mein Ding“ wäre, und so heißt der Roman der amerikanischen Autorin Jami Attenberg, die vor rund zehn Jahren mit „The Middlesteins“ bewiesen hat, was für eine tolle Familiengeschichte sie schreiben kann.

„Underground“ ist oft traurig, aber beim Lesen muss man immer lachen, so wie hier. Denn natürlich hat Andrea auch eine Familie – sie hat eine Mutter und einen Bruder und fatale Erinnerungen an ihren Vater, einen Musiker. Der Bruder heiratet die schöne und kluge Greta, alles ist perfekt, und dann kommt ein schwerkrankes Kind zur Welt, das nicht leben kann. Es verändert alles. Obwohl Andrea Verständnis hat, ist sie immer froh, dass dies nicht ihr Leben ist.

Aber was genau ist ihr Leben? Sie brach ihr Kunststudium ab, sie wollte unbedingt malen. Es gibt keinen festen Freund, nur mehrere Affären. Und wie würde ein echtes, glückliches Leben aussehen? Sie sieht um sich herum nichts, wofür es sich ihrer Meinung nach zu kämpfen lohnt, doch sie selbst ist weit davon entfernt.

Wenn dieses Buch, das trotz allem lustig ist, eine Botschaft hat, dann diese: Wenn man sich entscheidet, irgendein Leben zu führen, was auch immer es sein mag, muss man es klaglos durchmachen. Man muss seine eigene Haltung finden. Und dann? „Sie beißen in Ihre Pizza, nippen an Ihrem Wein und fragen sich, wozu Sie endlich bereit sind: Was nun?“

Jami Attenberg: „Nicht mein Ding“, deutsch von Barbara Christ, Schöffling Verlag, 223 Seiten, 22 Euro

Guillaume Musso: „Ein Wort, um dich zu retten“

Der Autor Guillaume Musso steht seit einem Jahrzehnt an der Spitze der Bestsellerlisten, zumindest in seiner Heimat Frankreich, aber auch hier, und seine Bücher sind in 40 Sprachen erhältlich. Und ich sage es ganz klar: Das ist keine Weltliteratur. Er schreibt etwas, das man Wälzer nennt – leicht lesbare, gut gestrickte Bücher für den Strand, den Urlaub, lange Zugfahrten. Sie haben Spaß und genießen ein gutes Stück Kuchen. Danach ist man glücklich, und dafür sind Bücher da: um uns für ein paar Stunden abzulenken.

Packen Sie also die Geschichte des eigensinnigen Dichters Nathan Fawles, der sich auf einer Insel verbarrikadiert und keine Menschen mehr sehen will, in Ihre Urlaubstasche. Außerdem hat er seit zwanzig Jahren nichts mehr geschrieben. Warum das alles? Das will der junge und gescheiterte Schriftsteller Raphael Bataille wissen, der einen Ferienjob auf der Insel hat. Und auch die Journalistin Mathilde Monney hat es auf den Geist des Dichters abgesehen, allerdings aus ganz anderen Gründen. Beide kommen sich immer näher und es entwickelt sich langsam zu einem echten Thriller, mit Leichen, Polizei und Sensation, aber auch mit Schuldgefühlen und Komplikationen in der Vergangenheit.

Aber letztendlich geht es bei Musso ums Schreiben – woher kommt die Inspiration, wie verändert sich die Realität in Geschichten und warum hören Schriftsteller wie Nathan Fawles in diesem Buch und Salinger, Philip Roth oder Milan Kundera plötzlich auf zu schreiben im wirklichen Leben? Dies sind tiefgreifende Fragen, die in einem entspannten mediterranen Krimi von Frankreichs erfolgreichstem Autor heimlich ausgehandelt werden.

Guillaume Musso, „Ein Wort, um dich zu retten“, Pendo Verlag, 320 Seiten, 16,99 Euro.

Hanns Zischler: "A carta rasgada"

Hanns Zischler, Anfang 70, ist ein eleganter und kultivierter Mann, er hat ein Buch über Kafka geschrieben, aber als Schauspieler kennen Sie ihn wahrscheinlich am besten, zum Beispiel aus den Filmen von Wim Wenders und Peter Handke.

Regisseur Jean-Luc Godard nannte Zischler einen Gentleman-Darsteller, er spiele das, was er sei: elegante, höfliche Gentlemen. Und nun hat der ruhige und freundliche Künstler seinen ersten Roman geschrieben: „A Carta Torragada“. Es ist ein Roman, der fast ausschließlich aus Dialogen besteht. Eine junge Frau – Elsa – und eine alte Frau – Pauline – sprechen über Liebe. Die Liebe des jungen Mannes endete spektakulär, der alte Mann lebte mit einem viel älteren Mann zusammen, Max, der abenteuerlustig war und mit ihr die Welt bereiste, immer auf der Suche nach neuen Eindrücken, Menschen, Pflanzen, Tieren. Pauline hat dieses Leben in Briefen, Fotos, Reisetagebüchern festgehalten, und wenn die junge Elsa jetzt zu ihr kommt, ist es wie „geschmolzenes Eis der Erinnerung“. „Es kommt so viel zurück. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Als würde man einen großen Raum betreten, aber aus einem ganz anderen Blickwinkel.“

Es ist ein zartes und ruhiges Buch über Liebe, Erinnerung, den Mut, das Leben anzunehmen und die Kraft, unglückliche Liebe zu überwinden. Chamissos Zeilen kommen Pauline in den Sinn: „Ich ziehe mich still in mich zurück, / Der Schleier fällt, / Da habe ich dich und mein vergangenes Glück, / Du bist meine Welt.“ Ach ja, und ganz am Ende ist auch ein zerrissener Brief. Und der Leser freut sich: Der Brief konnte nicht mehr schaden.

Hanns Zischler, „To Torn Letter“, Galiani, 269 Seiten, 20 Euro

Lothar Schirmer: „Über meine Künstler“

Diese Woche möchte ich euch kein Buch vorstellen, sondern ein kleines und kostbares Buch entdecken. Es ist in erster Linie ein Buch für Liebhaber der Kunst, der Fotografie, des Ungewöhnlichen, des Besonderen.

Darüber hinaus gibt es in München den SchirmerMosel Verlag, der seit mehr als 40 Jahren wunderschöne Sammlungen aus Fotografie, Kunst und Literatur veröffentlicht, etwa die Memoiren von Coco Chanel, Frida Kahlo oder Isabella Rosselini, aber auch ein Buch über Rossellinis Hühner , zum Beispiel, dass sie in der Nähe von New York züchtet. Die Bücher von Peter Handke sind bei Suhrkamp, ​​seine schönen Zeichnungen aber bei SchirmerMosel. Fassbinders Filme werden hier mit wunderschönen Fotografien dokumentiert.

Und Redakteur Lothar Schirmer hat sich nun zu seinem 75. Geburtstag ein Büchlein überreicht. Auf dem Titelbild er selbst, fotografiert von Jim Rocket: ein Mann, dessen Humor, Lebensart und Intelligenz offensichtlich sind. Ein Kenner, ein lustiger Mensch, der seinem Gegenüber (es ist Peter Lindbergh) etwas Lustiges erzählt. Wer Lothar Schirmer kannte, wird diesen höflichen, fröhlichen und großzügigen Menschen nie vergessen. Und wer ihr Redaktionsprogramm sieht, kann nur überrascht sein: Von Coco Chanel bis Frida Kahlo, von Beuys bis Fassbinder, von Annie Leibowitz, Wim Wenders, Candida Höfer bis zu den Pilzzeichnungen von Peter Handke – alles in der Kunst ist eine Ausnahme, etwas Besonderes, zu finden Eine davon ist: Schirmer hat. Und er liebt „seine“ Künstler seit seinem dreizehnten Lebensjahr, seit das Nachkriegskind in der damals unglaublich erwachten Kunststadt Köln erstmals Museen und Galerien besuchte und mit dem Sammeln von Kunst begann.

Er hat auch in Köln studiert, in Köln erhielt er 2017 den wichtigsten Fotopreis und war bereits Herausgeber des Jahres. Ihr Buch heißt „About My Artists“, und „meins“ bedeutet nicht Stolz, sondern Liebe. Jeder dieser 22 Texte über Ausstellungen, Bücher und Künstler ist voller Liebe, Humor und Wissen. Wer sich für Kunst, Film und Fotografie interessiert, findet hier eine Fülle wunderbarer Gedanken und Erinnerungen. Künstler brauchen nicht nur Ausstellungen, Leser, Sammler. Sie brauchen Liebhaber wie diesen Lothar Schirmer, den intelligenten Analytiker mit dem poetischen Blick und dem Talent für wahre Freundschaft. Das Buch ist eine Hommage an die Künstler, ein bedeutendes Werk der Kunst- und Kulturgeschichte und einfach: ein Genuss.

Lothar Schirmer: „Über meine Künstler. Reden, Redner, Texte“, Schirmer Mosel, 248 Seiten, 70 Abbildungen, 19,80 Euro

Olivia Wenzel: „Angst vor 1000 Haarnadelkurven“

Olivia Wenzel ist eine Autorin, die 1985, noch zu DDR-Zeiten, mit einem Zwillingsbruder in Weimar geboren wurde. Die Mutter war damals noch sehr jung, ein Punk mit blauen Haaren, der Vater stammte aus Angola, wo er bereits eine Familie hatte, zu der er zurückkehrte. Die Mutter, die sich nicht an das System hält, landet im Gefängnis, die Zwillinge landen bei der Großmutter, die sie liebt, sie aber „meine Schokoladenkrümel“ nennt und ihnen die Geschichte vom Struwwelpeter vorliest, in der der gute Nikolaus ungezogene Kinder in einem Tintenfass tauft und malt sie zur Strafe schwarz.

Großmutter liebt ihre „Schokoladenkrümel“, denkt aber nicht über den Rassismus solcher Ausdrücke nach. Mit 19 nahm sich ihr Bruder das Leben, und die Ich-Erzählerin, bei der es sich eindeutig um Olivia Wenzel handelt, kämpfte alleine in einer Welt, die sie, so freundlich sie auch sein mag, fragte: „Na, hast du zu viel getrunken?“ Kakao? Sitzen Sie wahrscheinlich zu nah am Toaster? Hallo Kaffeebohne! Und ähnliche dumme Dinge, die eindeutig rassistisch sind. Und sie wird wachsam und sensibel – kahl in der Nähe des Steinbruchs, dort schwimmt sie lieber nicht. Nachts nur weiße Männer in der U-Bahn – weiter will sie lieber nicht. Nicht alle von uns denken darüber nach, über diese „1000 Schlangenängste“, aber das lehrt uns Olivia Wenzel jetzt in ihrem rasanten Roman.

Sie redet nicht nur mit sich selbst – sie ist Künstlerin, tritt auf der Bühne auf, schreibt Theaterstücke, macht Musik. Sein Buch ähnelt ein wenig einem Rap – vor allem ist es eine Art Interview mit sich selbst. Sie fragt sich: Wo bist du jetzt? In New York City. Wie läuft es dort? Nun, niemand nennt mich dumm. Wir wissen, wie viel Gewalt gegen Schwarze immer noch zum Alltag gehört, insbesondere in den USA – der Tod von George Floyd hat dies gerade noch einmal gezeigt und weltweit Proteste ausgelöst.

Dennoch sind in einer Stadt wie New York Menschen aller Hautfarben ein natürlicher Teil des Straßenbildes, und zum ersten Mal kann sie einfach eine Banane auf der Straße essen, ohne dass jemand sie anlächelt und amüsiert, ugh-uga - uga. Ich habe nie an so etwas gedacht, musste nie darüber nachdenken. Aber genau das bringt mich, uns Leser, zu dieser Autorin mit ihrem unverblümten, direkten und brutalen Buch.

Abschließend noch ein Zitat: „Als Kind wollte ich nichts sehnlicher als eine Creme, eine Wundersalbe, die ich vor dem Schlafengehen auftrug und die mich über Nacht weiß aussehen ließ.“ Die Erinnerung an diesen Wunsch als Erwachsener erfüllt mich mit Scham und Traurigkeit.“

In einem wütenden, verzweifelten und rebellischen Roman gibt uns eine brillante junge Frau Einblick in ein Leben, das sich in unserer Mitte abspielt und über das wir sehr wenig wissen.

Olivia Wenzel, "1000 Serpentine Fear", S. Fischer Verlag, 350 páginas, 21 euros

Liz Moore: „Long Clear River“

Wir sehen es jetzt jeden Tag im Fernsehen: Amerika brennt. Und wie es in den Krisengebieten der Großstädte aussieht, können Sie auch in diesem großartigen Roman von Liz Moore nachlesen. Es erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die ohne Liebe bei ihrer Großmutter aufwachsen.

Mutter starb früh an Drogen, Vater lief weg. Auch Kacey, die Jüngste, versinkt in der Drogenszene, Mickey, die Älteste, wird Streifenpolizistin, nicht ohne Hintergedanken: damit sie in den heruntergekommenen Vororten von Philadelphia wenigstens ein Auge auf ihre Schwester haben kann. Zusammen mit ihrem Sohn versucht sie, ein Leben aufzubauen, das diesem Namen würdig ist. Eines Tages wird die Leiche einer Frau gefunden und an einem anderen Tag ist ein Serienmörder unterwegs. Mickeys erster Gedanke ist immer: Kacey!

Das Gute kann nicht gemindert werden

Und nun wird aus der rührenden Familienromanze ein spannender Thriller. Es beginnt mit einer Leiche, endet mit einem Neugeborenen und ein wenig Hoffnung, diesem großartigen Roman, von dem er sich beim Lesen nicht befreien kann. Und dann sehen wir die Bilder aus den USA und wissen es: Mädchen wie Kacey und Mickey, die kaum eine Chance haben, sind mittendrin. Und unter den Polizisten weiß Mickey genau, dass es da draußen einige wirklich böse Jungs gibt. Ich denke, das ist das richtige Buch zur richtigen Zeit. Bei all seinem Realismus ist es aber auch nicht nur deprimierend: Das Gute ist ebenso wie das Schlechte nicht herunterzuspielen. Und es ist diese Balance, die uns trotz allem Hoffnung gibt.

Liz Moore, Long Bright River (CH Beck) 411 Seiten

Mariam Kühsel-Hussaini: „Er“

Ich habe mich in dieses Buch verliebt, weil es in einer so unglaublich bildreichen Sprache erzählt wird, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Mariam Kühsel-Hussainis Großvater war ein berühmter Kalligraph in Afghanistan, also schrieb er „wunderschön“, und sie schrieb auch „wunderschön“, aber nicht mit Buchstaben, sondern mit Worten. Es erzählt die Geschichte von Hugo von Tschudi, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nationalgalerie in Berlin leitete und alle damals modernen Franzosen aufkaufte – Renoir, Cézanne, Manet, Monet. Der Kaiser war wütend: Er wollte DEUTSCHE Bilder in DEUTSCHEN Museen, ach ja, Tschudi war viel klüger und gebildeter als dieser arme Preuße und kämpfte behutsam und geschickt für die Kunst.

ein unglücklicher Mann

Er wusste auch, dass der arme Kaiser ein unglücklicher Mann war, er kam mit diesem Tschudi nicht zurecht und schäumte vor sich selbst, und „direkt unter der Uniform war ein Schmerz in der Brust, der nicht durch irgendeine Krankheit verursacht wurde, sondern nur durch Schmerzen geschürt wurde.“ " . Tschudi, der höfliche, große und gutaussehende Mann, litt an der Wolfskrankheit: Sein Gesicht wurde nach und nach so sehr zerfressen, dass er eine Maske tragen musste. Doch er wehrt sich, er ist stärker als der Kaiser in seiner Einsamkeit.

Hier kommt zusammen, was ein gutes Buch ausmacht: eine packende Geschichte, brillant erzählt. Der Tiergarten ist „blutig vor Sommer“ und wenn man verliebt ist, „fangen die Augen an“ – das haben wir noch nie gelesen und es macht glücklich!

Mariam Kühsel-Hussaini: "Tschudi", Rowohlt, 318 páginas, 24 euros

Michael Kumpfmüller: „Oh Virginia“

Virginia Woolf war eine englische Schriftstellerin, die 1941 im Alter von 58 Jahren Selbstmord beging. Sie war deprimiert und hatte Angst, verrückt zu werden. Michael Kumpfmüller ist ein 1961 geborener deutscher Schriftsteller, der in seinem Roman mit dem seufzenden Titel „Ah, Virginia“ die letzten zehn Tage im Leben dieses Schriftstellers beschreibt. Das Buch interessierte mich aus drei Gründen: 1. Ich liebe beide Autoren, 2. Ich wollte wissen, wie sehr sich ein moderner Mensch in den Autor seiner Zeit hineinversetzen kann, und 3.: Das Buch wurde so unerbittlich gelobt und kritisiert Gleichzeitig wollte ich mir eine eigene Meinung bilden, und genau darum bitte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser.

Hier wird erzählt, wie Verzweiflung, Geisteskrankheit und Kreativität eng miteinander verbunden sind, wie wenig Erfolg einen Menschen stabilisiert, wie Lebenskrisen Illusion und Realität vermischen. Ich finde, Kumpfmüller macht das gut und einfühlsam.

Virginia Woolf hat ihren Mann Leonard, ebenfalls Schriftsteller, in den letzten zehn Tagen sehr schlecht behandelt, er erträgt es geduldig, er kennt ihren Schmerz. Ist sie ein Opfer? Ist sie schuldig? Auf jeden Fall war ihr Selbstmord spektakulär: Der erste Versuch, sich im sehr flachen Fluss zu ertränken, scheiterte – sie kann schwimmen. Im zweiten Fall steckt sie Steine ​​in ihre Taschen und sinkt und hinterlässt einen rührenden Liebesbrief für ihren Mann. Ah, Virginia... Diese Frau, die so hart für die Unabhängigkeit der Frauen gekämpft hat, scheitert allein, 1941 – und deutsche Bomber fliegen über das idyllische Herrenhaus, in dem so viel Traurigkeit herrscht.

Michael Kumpfmüller, "Ach, Virginia", Kiepenheuer & Witsch, 236 páginas, 22 euros.

Charlotte Wood: „Ein Wochenende“

Im Mai ist ein Roman erschienen, der uns beim Lesen glücklich macht: Eine gute Geschichte ist gut erzählt. Der Name der Autorin ist Charlotte Wood, sie ist Australierin und sie schreibt über drei Freunde mit so viel Humor, Sensibilität und schonungsloser Klarheit, dass man meinen könnte, man sei Vierte im Bunde. Und es waren vier von ihnen, aber Sylvie starb und forderte ihre drei Freunde in ihrem Testament auf, das Strandhaus am Meer zu verkaufen, in dem sie so oft Weihnachten zusammen verbracht hatten. Alles muss weg, jeder muss sich nehmen, was er will, das Haus ist verkauft.

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Und so reisen die drei 70-jährigen Mädchen für ein Weihnachtswochenende: Da ist Jude, die Elegante, die Coole, die ihr Leben und alles dazwischen im Griff hat. Sie hat einen wohlhabenden, seit Jahrzehnten verheirateten Liebhaber und möchte dieses Wochenende mit ihm verbringen, um Weihnachten zu feiern, wenn er seinen ersten Urlaubstag mit der Familie beendet. Jude hasst den Hund, den Wendy mitbringt – Wendy, die eher Hippie-Lehrerin mit einem Auto, das wie ein Müllcontainer aussieht, Wendy, schlau, aber schlampig und verkorkst, und dann dieser alte, verkrüppelte, blinde, stinkende Hund – natürlich tut der Jude das Nicht was. Ich gehe nicht in das Haus, obwohl es nicht ihr Haus ist und obwohl die verstorbene Sylvie Wendy diesen Hund als tröstendes Geschenk geschenkt hat, als Wendys Ehemann Lance starb. Da war nichts an Lance und Sylvie...einige Geheimnisse sollten nicht angesprochen werden.

Die dritte im Bunde ist Adele, einst eine gefeierte Schauspielerin, jetzt nur noch eine Schauspielerin ohne Rollen, immer noch hübsch, immer noch ein wenig overdressed, leider von ihrem jetzigen Liebhaber verlassen, und diese drei kennen sich schon seit Jahrzehnten. Sie kennen Geheimnisse, Liebende, ihre Misserfolge, ihre Erfolge, ihre Freundschaft hat Bestand und doch platzen Risse, und Misstrauen, Fanatismus, Eifersucht, Besserwisser und Nervosität schleichen sich ein. Sogar Freundschaften haben manchmal ein Ablaufdatum.

Charlotte Wood erzählt mit Humor und etwas Schalk, wie diese drei Frauen gemeinsam das Weihnachtswochenende verbringen und das Haus aufräumen. Wird die Freundschaft enden, wird sie Bestand haben und sogar noch stärker werden?

Und es gibt noch eine weitere heimliche Hauptfigur, nämlich ein schneeweißes Designsofa, das Jude Sylvie einst für dieses Haus geschenkt hat. Da ist sie jetzt, strahlend inmitten des restlichen Chaos, weiß, strahlend, atemberaubend. Jude sieht sie an und denkt: „Schade, dass Sylvies billige und schäbige Kleidung von der Eleganz des Sofas ablenkt“, Wendy findet dieses Stück hier „völlig fehl am Platz“ und hat das Gefühl, dass Jude anderen immer ihren Geschmack aufzwingt. Der alte Hund darf nicht nur das Haus nicht betreten, er darf auch nicht in die Nähe des Sofas gehen und sich sogar darauf übergeben – Drama! Und Adele, nun ja, Adele ist nur mit sich selbst beschäftigt und merkt es nicht wirklich. Kann das gut gehen?

Es kann nicht. Es kommt zu einem großen Skandal, zu dem auch zwei sehr seltsame und unerwünschte Gäste beitragen, und schließlich werden Donner, Regen, zu viel Wein, zu viele Tränen, Geständnisse, Enttäuschungen – und Freundschaften auf die Probe gestellt. Kannst du es ertragen?

Seien Sie die vierte Freundin, die Sie lesen und selbst entscheiden. Ich fühlte mich bei diesen Frauen wohl und hätte nie in meinem Leben auf der schönen weißen Couch gesessen.

Charlotte Wood: „Ein Wochenende“, deutsch von Brigitte Walitzek, Kein&Aber, 284 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

FAQs

Welche Bücher empfiehlt Elke Heidenreich? ›

Elke Heidenreich: Ausgewählte Buchtipps
  • Stendhal: Rot und Schwarz. ...
  • Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. ...
  • William Faulkner: Licht im August. ...
  • Kathrine Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. ...
  • C. W. Ceram: Götter, Gräber und Gelehrte. ...
  • Bruce Chatwin: Traumpfade. ...
  • Anita Brookner: Hotel du Lac. ...
  • Orhan Pamuk: Das neue Leben.

Welche Bücher empfiehlt die Zeit? ›

Inhalt
  • Sally Rooney: Normale Menschen. ...
  • Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. ...
  • David Grossman: Was Nina wusste. ...
  • Lisa Eckhart: Omama. ...
  • William Gibson: Agency. ...
  • Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. ...
  • Bas Kast: Das Buch eines Sommers. ...
  • Robert Seethaler: Der letzte Satz.
Oct 7, 2020

Wie viele Bücher hat Elke Heidenreich geschrieben? ›

Elke Heidenreich - 22 Bücher - Seite 1 von 2 - Perlentaucher.

Wie heißen die Bücher bei denen man selbst entscheidet? ›

Als Spielbuch (englisch: game book) wird ein Druckwerk bezeichnet, bei dem der Leser direkten Einfluss auf die Handlung des Geschehens nehmen kann. Diese interaktiven Bücher waren besonders in den 1980er-Jahren populär.

Welche Bücher empfiehlt Denis Scheck? ›

  • Einzeller: Ein satirischer Gesellschaftsroman. ...
  • Kochen im falschen Jahrhundert: Ein großer Spaß! ...
  • Oben Erde, unten Himmel: Ein Roman über Tod und Einsamkeit. ...
  • Die Bäume: Ein beeindruckender Roman über Rassismus. ...
  • Die schmutzige Frau: Eine feministische Abrechnung. ...
  • Das Liebespaar des Jahrhunderts: Wenn Liebe endet.

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Author: Msgr. Benton Quitzon

Last Updated: 05/10/2023

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Name: Msgr. Benton Quitzon

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